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Kältewelle in Berlin: Zuflucht in die Nischen
Nächtliche Minustemperaturen in der Hauptstadt bringen Obdachlose in Gefahr. Die Unterkünfte quellen über
Während in den Nächten die Temperaturen teilweise auf über minus zehn Grad Celsius fallen und im Wetterbericht regelmäßig vor strengem Frost gewarnt wird, versuchen weiterhin tausende Menschen in Berlin auf der Straße zu überleben. Ihre Situation in der kalten Jahreszeit ist äußerst prekär. Nicht wenige Wohnungslose übernachten in Zelten unter S-Bahn-Viadukten oder in mehrere Schlafsäcke eingehüllt in Hausdurchgängen und anderen architektonische Nischen, die vor der harschen Witterung möglicherweise etwas Schutz bieten.
Die Notunterkünfte der Kältehilfe sind völlig überlastet. In den vergangenen Nächten war es den Fahrern der Kältebusse nicht mehr möglich, alle Personen unterzubringen, weil die Unterkünfte voll waren, erklärte die Sprecherin der Berliner Stadtmission, Barbara Breuer gegenüber dem Nachrichtenportal »T-Online«. Dringend benötigt würden derzeit zivilgesellschaftliches Engagement und private Spenden: »Den Leuten, die nicht unterkommen, wollen wir wenigstens einen Schlafsack und eine Isomatte in die Hände drücken.« Es werde auch warme Winterkleidung dringend benötigt. Passanten könnten obdachlose Menschen ansprechen und mit deren Einverständnis den Kältebus anrufen. Darüber hinaus appellierte Breuer, solidarischer mit den Menschen im eigenen Kiez zu sein, und mal eine Thermoskanne Tee oder eine Wärmflasche anzubieten.
»Berlin platzt aus allen Nähten«, sagt die Referentin für Armutsbekämpfung, Wohnungslosenhilfe und Soziale Dienste des Diakonischen Werkes Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Ina Zimmermann, zu »nd«. Der Wohnraummangel habe die Stadt so eklatant im Griff, dass »viele Zielgruppen kaum noch versorgt werden können«. Mit 47 000 in Notunterkünften untergebrachten wohnungslosen Menschen, knapp über 6000 Menschen ohne Unterkunft und geschätzt 2400 Menschen in verdeckter Wohnungslosigkeit hat die Bundeshauptstadt laut der Referentin der Diakonie »einen dramatischen Höhepunkt erreicht«.
Die Senatssozialverwaltung bestätigt »nd« diese Zahlen. Nach ihren Angaben stehen in der aktuellen Kältehilfesaison täglich im Durchschnitt rund 1180 Notübernachtungsplätze zur Verfügung. Größtes Hindernis bei der Beendigung der Wohnungslosigkeit ist aus Sicht des Sprechers der Sozialverwaltung, Stefan Strauß, »der weiterhin eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum«. Viele Regelungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zur Beendigung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit sind auf der Bundesebene angesiedelt, ganz konkret im Mietrecht und im Sozialrecht. Laut Strauß bleibt zurzeit nur abzuwarten, »welchen politischen Stellenwert die neue Bundesregierung der Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit zukommen lassen wird«.
»Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit findet längst nur noch auf der Ebene der Symbolpolitik statt.«
Stefan Schneider Wohnungslosen-Stiftung
Ein Hauptaugenmerk sollte auf den Neubau gerichtet sein. Ende 2023 gab es in Berlin noch 99 849 Sozialwohnungen, ein Jahr zuvor noch knapp 5000 mehr. Eine Trendumkehr ist laut Zimmermann nicht in Sicht. Die Neubautätigkeit sinkt laut der Expertin von Jahr zu Jahr, womit die Zahl der Sozialwohnungen kontinuierlich abnimmt, da viele Wohnungen aus der Belegungsbindung fallen. Einer Studie des Pestel-Instituts zufolge, in Auftrag gegeben von dem Bündnis Soziales Wohnen, werden in der Bundeshauptstadt etwa 236 300 neue Sozialwohnungen gebraucht. Die Autoren der Studie fordern, dass Bund und Länder in ganz Deutschland jedes Jahr elf Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau in die Hand nehmen.
Das einst von Bund, Ländern und Kommunen ausgerufene Ziel, bis 2030 die Wohnungslosigkeit in Deutschland zu beenden, ist laut einem Zusammenschluss von Wohlfahrtsverbänden bereits nicht mehr zu erreichen. Die Arbeiterwohlfahrt, Caritas, die Diakonie, das Deutsche Rote Kreuz, der Paritätische Wohlfahrtsverband und die Jüdische Gemeinde erklärten im vergangenen Jahr den Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit gemeinsam für gescheitert.
»Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit findet längst nur noch auf der Ebene der Symbolpolitik statt«, schätzt Stefan Schneider, Sprecher der Wohnungslosen-Stiftung, eines unabhängigen Interessenverbands, die derzeitige politische Gesamtlage ein. Die Vertreibung obdachloser Menschen durch Ordnungsämter und Polizei sei dagegen Alltag. Darüber hinaus würden immer weniger obdachlose Menschen in die Massennotunterkünfte gehen, die sie in der Regel tagsüber verlassen müssen, da diese Orte »menschenunwürdig« seien. Aus der Sicht von Schneider ist es jedoch jederzeit möglich, Gutscheine an wohnungslose Menschen für eine mehrmonatige Hotelunterbringung in Einzelzimmern oder leerstehende Wohnungen an Obdachlose zu vergeben.
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Häufig vergessen werden auch die Probleme von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Rollstuhlfahrer können nur schwerlich in der Kältehilfe versorgt werden. Die meisten Einrichtungen sind dafür nicht ausgelegt. »Dennoch landen sie immer wieder dort und können nur mit immensen und eigentlich unzumutbaren Kraftanstrengungen versorgt werden«, beschreibt Zimmermann die Situation. Einem Modellprojekt zur Versorgung mobilitätseingeschränkter obdachloser Menschen waren vor einigen Jahren Mittel in Aussicht gestellt worden. Diese fielen erst den Coronahilfen zum Opfer und wurden letztlich ganz aus dem Haushaltsansatz gestrichen.
Die derzeit angebotene Kältehilfe sei nur eine absolute Nothilfe, »die das existenzielle Ziel hat, Menschen vor dem Erfrieren zu bewahren«, ergänzt Zimmermann. Gleichzeitig gebe es derzeit kaum Hoffnung auf einen Ausbau der Unterstützungsangebote. Aufgrund der angespannten Haushaltslage im Land Berlin seien letztlich auch diese in Gefahr. Die Wohlfahrtsverbände gehen von immensen Einsparvorgaben in den kommenden Jahren aus, die auch die soziale Infrastruktur betreffen und das bestehende Hilfsangebot gefährden werden.
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