- Kommentare
- Aus dem faschistischen Amerika
USA: Irreal normal
Daniel Loick erlebt dystopischen Alltag in New York
Einige Zeit vor meiner Abreise in die USA hatte ich mich gefragt, ob ich von der neuen Trump-Regierung im Alltag überhaupt etwas mitbekommen würde. Klar sind die Dekrete, die Trump schon in den ersten Wochen seiner Amtszeit erlassen hat, katastrophal. Klar ist der gesellschaftliche Umbruch verheerend, den eine rechtsradikale, von einer Bevölkerungsmehrheit unterstützte Regierung vorantreiben kann. Aber wie schnell würde ich, der als weißer Cis-Typ nicht unbedingt an erster Stelle der MAGA-Abschussliste steht, in der liberalen Bubble New York persönlich etwas davon spüren?
Die Grundstimmung des Lebens unter einer faschistischen Regierung in einer multikulturellen Metropole ist die einer Irrealisierung. Man fühlt sich wie in einem Science-Fiction-Film, der aber jederzeit Wirklichkeit werden kann. Auf der Taxifahrt vom Flughafen in die Stadt zwitschert die Moderatorin zwischen einem Fleetwood-Mac-Song und einem Werbejingle: »Immigration raids continue!« (Razzien gegen Immigrant*innen gehen weiter!) Meine Freundin Jenny erzählt, dass sie von der Schule, auf die ihre Kinder gehen, gerade die Aufforderung bekommen hat, aktualisierte Notfallkontakte einzureichen, damit jemand erreichbar ist, falls die Eltern spontan abgeschoben werden. Auf einer Kundgebung für die Rechte von trans Jugendlichen hält ein Kind eine Rede, das gerade erst mit seiner Familie aus Florida nach New York gezogen ist, weil diese sich hier sicherer fühlte. Es erzählt, dass die Familie nun auch hier in der Apotheke Schwierigkeiten hat, an Medikamente zu kommen – Apotheker*innen haben Angst, verhaftet zu werden, wenn sie trans Menschen die ihnen verschriebenen Medikamente aushändigen. Und in jeder Behörde, jeder Uni, jeder Firma gibt es Leute, die Gelder oder ihren Job verloren haben, weil ihre Projekte einen Aspekt der DEI enthalten: Diversity, Equity, Inclusion, also Gleichstellungsprogramme, die Trump direkt am zweiten Tag seiner Amtszeit per Dekret abgeschafft hat.
Daniel Loick ist Abolitionist und Professor für Politische Philosophie an der Universität Amsterdam. Als Gastwissenschaftler in New York schreibt er in seiner Kolumne »Aus dem faschistischen Amerika« alle zwei Wochen über den autoritären Alltag in den USA.
Und obwohl das alles extreme, gewalttätige, furchterregende Sachen sind, geht der Alltag weiter, als ob nichts wäre. Es gibt zwar einige Kundgebungen, aber keine ernsthafte parlamentarische Opposition, keine Massenproteste, zivilen Ungehorsam oder Krawalle. Die Leute gehen zur Arbeit, shoppen, ins Kino und in die Kneipe, sie starren auf ihre Telefone, ärgern oder verlieben sich. Dies mag an emotionaler Indifferenz liegen oder an ideologischer Verblendung oder einfach an einer realen Ohnmacht. Auf jeden Fall trägt diese Folgenlosigkeit zu der Irrealisierung des Faschismus bei: Passiert das gerade wirklich?
Das Reale, sagt Lacan, bleibt an einem hängen wie ein Kaugummi am Schuh. Es hat eine rohe, materielle Konkretheit, die die symbolische Ordnung durchbrechen kann. Direkt am Tag meiner Ankunft fand in Sunset Park, einem lateinamerikanisch geprägten Stadtviertel, ein Protest gegen Trumps Migrationspolitik statt. Demonstrierende skandierten Parolen wie »Latinos unidos jamás será vencido» und »No hate, no fear, keep ICE out of here« (ICE ist die US-Abschiebebehörde). Ich frage eine junge Mutter, ob ich ihr Kind fotografieren darf, das ein Schild trägt, auf dem auf Spanisch steht: Mein Vater kam mit der gleichen Angst in dieses Land, die ich jetzt habe. Als ich mir später das Foto anschaue, sehe ich im Gesicht der Frau nicht den Ausdruck von Angst oder Wut, sondern vor allem eins: unfassbare Erschöpfung. Es ist diese Erschöpfung, die das Grauen, das sich im Alltag auf Distanz halten lässt, mit einem Mal ganz nah kommen lässt.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.