Sören Pellmann: Konkurrenz unter neuen Vorzeichen

In Leipzig kämpft Sören Pellmann um ein Direktmandat für Die Linke, was ausgerechnet ein Ex-Genosse verhindern könnte

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.
Nicht nur unter lokaler Beobachtung: Sören Pellmann und sein Wahlkreis 152
Nicht nur unter lokaler Beobachtung: Sören Pellmann und sein Wahlkreis 152

Der Mann von der Versicherung steht im beginnenden Schneefall zwischen Plattenbauten und verteilt Taschentücher. »Etwas gegen tropfende Nasen«, ruft Sören Pellmann den Passanten zu, die im Leipziger Stadtteil Grünau von einer Einkaufspassage zu einem Wochenmarkt mit Verkaufswagen und Gulaschkanone eilen. »Nicht vergessen: In wenigen Tagen wird gewählt«, fügt Pellmann hinzu. Viele Vorbeilaufende nicken freundlich, einige erklären, schon abgestimmt zu haben, und nicht wenige fügen hinzu: »Unsere Stimme haben sie.«

Pellmann hört die Worte gern. Sie zahlen auf die Lebensversicherung ein, für die der 48-jährige Politiker der Linken kämpft. Er will an diesem Sonntag im Wahlkreis 152 Leipzig-Süd das Direktmandat verteidigen, das er bereits zweimal gewann und das seiner Partei 2021 den Verbleib im Bundestag sicherte. Damals hatte diese fast die Hälfte ihres Wählerzuspruchs eingebüßt und war mit 4,9 Prozent knapp an der Zugangshürde zum deutschen Parlament gescheitert. Nur der Umstand, dass neben Gregor Gysi und Gesine Lötzsch in Berlin auch Pellmann seinen Wahlkreis gewann, sicherte den Eintritt durch die Hintertür.

Auch vier Jahre später ruhen viele Hoffnungen auf ihm. Zwar vermitteln die Umfragen, in denen Die Linke zuletzt stabil über fünf Prozent lag, ein beruhigendes Gefühl. Zudem setzt man nicht nur auf drei »Versicherer«. Vielmehr kämpft die Partei um bis zu sechs »strategische Wahlkreise«. Neben dem im Leipziger Süden gehören dazu auch die der drei »Silberlocken« Gregor Gysi, Bodo Ramelow und Dietmar Bartsch in Berlin, Erfurt und Rostock. Das ändere aber nichts an seiner Rolle, sagt Pellmann: »Das hier bleibt unsere Lebensversicherung.« Es ist einer der Wahlkreise, auf den, wie es eine Regionalzeitung formulierte, »die Bundespolitik am Wahlabend schauen« werde.

Wie das Rennen ausgeht, ist offen. Vorhersagen zufolge stehen Pellmanns Chancen nicht schlecht. Das Portal election.de sieht ihn zu 80 Prozent als Sieger, den AfD-Bewerber Christoph Neumann zu 17 Prozent. Bei wahlkreisprognose.de heißt es, das Mandat sei »eher sicher« für Die Linke. Das Umfrageinstitut Insa dagegen sieht CDU-Bewerber Dietmar Link knapp vorn. Beobachter gehen von einem Dreikampf zwischen Pellmann, Neumann und Link aus, auch wenn sich die Bewerberin der Grünen, Paula Piechotta, ebenfalls in aussichtsreicher Position wähnt. 2021 kam sie auf Platz zwei, exakt 7943 Stimmen und 4,4 Prozentpunkte hinter dem Sieger.

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Diesmal allerdings werden die Karten neu gemischt, und das liegt maßgeblich an einem Mann, den man am Ende eines langen Flures in einem abgelegenen Büro im Leipziger Rathaus trifft. In den Räumen fernab der anderen Fraktionszimmer hat die Ratsfraktion des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) ihren Sitz. »Auch mehr als ein halbes Jahr nach der Kommunalwahl leben wir leider in einem Provisorium«, sagt Eric Recke, der Fraktionschef. Bei der Wahl des Stadtrats im vergangenen Juni feierte die erst ein Dreivierteljahr zuvor gegründete Partei einen Achtungserfolg: 9,6 Prozent, sieben Mandate. Bei der sächsischen Landtagswahl im September waren es 11,8 Prozent, was für 15 Mandate reichte. Recke verpasste einen Parlamentssitz um wenige Zehntelpunkte. Jetzt will die Partei in den Bundestag – und Recke bewirbt sich im Wahlkreis 152 als Direktkandidat.

Das BSW wirbt längst nicht flächendeckend um Erststimmen. In Thüringen, wo die Partei mitregiert, stellte sie in jedem der acht Wahlkreise Direktbewerber auf, in Brandenburg, wo sie ebenfalls in einer Koalition sitzt, keinen einzigen. In den zwölf Berliner Wahlkreisen gibt es vier BSW-Direktkandidaten. Zwei davon treten dort an, wo Gysi und Linke-Bundeschefin Ines Schwerdtner als Nachfolgerin von Gesine Lötzsch die 2021 errungenen wichtigen Direktmandate verteidigen wollen. In Sachsen setzt das BSW in sechs der 16 Wahlkreise auf Erststimmen. Landeschefin Sabine Zimmermann hatte angekündigt, man werde sich auf »strategische Wahlkreise« beschränken. Neben Görlitz und Zwickau, Chemnitz und dem Erzgebirge sind das die zwei Wahlkreise in Leipzig.

Auf die Frage, welcher Strategie die Auswahl folge, verweist Recke zum einen auf öffentliche Aufmerksamkeit: »Wir haben uns Wahlkreise ausgesucht, auf die das Blitzlicht fällt.« Podien, zu denen Direktbewerber eingeladen würden, seien schließlich »eine Bühne, auf der wir besonders stark wahrgenommen werden«. Idealerweise hätte man flächendeckend präsent sein müssen, sagt er. »Aber unsere Kräfte sind noch begrenzt.« Das BSW hat wegen einer strengen Aufnahmepraxis in Sachsen bisher nur gut 80 Mitglieder.

Außerdem habe man Bewerber dort ins Rennen geschickt, »wo etwas gegen die AfD möglich ist«. In Görlitz und Chemnitz treten deren aktueller Bundeschef Tino Chrupalla und der Ex-Vorsitzende Alexander Gauland an. Recke geht davon aus, dass man diesen Stimmen abnehmen könne. Er verweist auf Studien wie jene, die kürzlich von Forschern der Universität Mannheim vorgelegt wurde. »Bündnis Sahra Wagenknecht schwächt die AfD stärker als gedacht«, heißt es dort. Vor allem ihre ablehnende Haltung zu einer Unterstützung der Ukraine treibe der Partei Wähler zu, die »ursprünglich die Absicht hatten, die AfD zu wählen«. Auch im Wahlkreis 152, legt Reckes Argumentation nahe, schmälere sein Antritt das Ergebnis des AfD-Mannes.

Das glaubt man bei der Linken eher nicht. Dort verweist man auf Zahlen zur Wählerwanderung bei der sächsischen Landtagswahl im September, als Die Linke ebenfalls die Fünf-Prozent-Hürde verfehlte und es nur dank zweier Direktmandate den Sprung ins Parlament schaffte. Damals zog der Wahlantritt des BSW von der AfD rund 23 000 Stimmen ab. Vor allem aber schwächte er Die Linke, die 73 000 vormalige Wähler an die neue Partei ihrer Ex-Fraktionschefin verlor. Sollte sich das bei der Bundestagswahl wiederholen, würde es die Genossen im hart umkämpften Wahlkreis 152 womöglich entscheidende Erststimmen kosten. Pellmann vermutet darin Kalkül. Das BSW »versucht in linken Hochburgen ganz bewusst, Stimmen von uns abzuziehen«, sagt er. »Die Strategie besteht darin, die linke Lebensversicherung anzugreifen.«

Durchaus pikant ist dabei, dass mit Pellmann und Recke zwei Politiker gegeneinander antreten, die zeitweilig Genossen waren. Der heutige Chef der BSW-Ratsfraktion war von 2011 bis 2019 Mitglied der Linken, allerdings in Hamburg: In der Leipziger Stadtpartei sei er nie aktiv gewesen, und mit Pellmann »habe ich noch nie ein Wort gewechselt«, sagt Recke. Er habe sich in linken Studentengruppen engagiert; sein größter politischer Erfolg sei die Einführung einer Zivilklausel an seiner Hochschule gewesen. Für wachsende Distanz zur Partei habe zunächst die Energiepolitik gesorgt, etwa die Bewertung der Atomkraft, später auch die Haltung zur Ukraine, in der, so sieht es Recke, mit dem Maidan im Jahr 2014 ein »von außen mit Waffen gestützter Regime Change« stattgefunden habe: »Die Linke war mir da zu lau. Das war der entscheidende Bruchpunkt.«

»Das BSW versucht in linken Hochburgen ganz bewusst, Stimmen von uns abzuziehen.«

Sören Pellmann Linke-Kandidat

Noch in Hamburg war Recke bereits in der 2018 von Sahra Wagenknecht gegründeten Sammlungsbewegung »Aufstehen« aktiv, nach seinem Umzug nach Leipzig gehörte er in Sachsen zu den frühen BSW-Mitgliedern – und ist bis heute quasi ein Multifunktionär: Chef der Ratsfraktion, Fachreferent in der Landtagsfraktion, zeitweilig Pressesprecher im Landesverband, in dem er sich auch mit dem Parteiaufbau beschäftigt, dazu Direktkandidat bei der Landtags- und jetzt auch bei der Bundestagswahl. Er und die Partei geraten immer wieder an Kapazitätsgrenzen. Recke spricht von einer »großen Belastung der Kräfte« und räumt ein, für Infostände im Wahlkampf gar keine Zeit zu haben, was »ein Nachteil« sei. Allerdings gebe es ein Netzwerk sehr aktiver Unterstützer, die Flyer verteilten und Plakate klebten – auf denen freilich nicht der Direktkandidat, sondern die Parteivorsitzende zu sehen ist. Recke selbst beschränkt sich auf die Teilnahme an Podien mit anderen Direktbewerbern, darunter Pellmann.

Die Situation ihrer beider Parteien im Wahlkampf ist dabei recht gegensätzlich und durchaus unerwartet. Die Linke, die zwischenzeitlich bereits totgesagt war, erlebt eine wundersame Auferstehung. Anhaltende interne Querelen auch nach dem Abgang Wagenknechts, Wahlpleiten mit dem Landtags-Aus in Brandenburg und dazu Umfragewerte stabil unter der Fünf-Prozent-Hürde hatten in den eigenen Reihen zeitweise den Mut sinken lassen. Jetzt aber beobachtet Pellmann eine »Euphorie, die durch die Republik rollt«. Die Umfragewerte haben sich über der kritischen Marke eingepegelt. Heidi Reichinnek, seine Ko-Vorsitzende in der Bundestagsfraktion, ist wegen ihrer Präsenz auf Tiktok zum Liebling des bundesweiten Feuilletons geworden und füllt bei ihren zahlreichen Wahlkampfterminen auch große Säle mühelos. Ähnlich phänomenal ist der Zuspruch für die »Silberlocken«, die bei einem Termin zur Unterstützung Pellmanns vom Balkon des überfüllten Leipziger Ringcafés einer begeisterten Menge zujubelten.

Menschen anziehen kann auch Sahra Wagenknecht. Als sie kürzlich in der Dresdner Messe auftrat, wollten sie rund 1000 Menschen erleben. Allerdings beschränkt sich die BSW-Gründerin auf eine Mini-Wahlkampftour mit lediglich neun Terminen. Nach Leipzig schickte sie ihren Ehemann Oskar Lafontaine, der den Kupfersaal nach Medienberichten freilich nur zur Hälfte füllte. Generell ist der Wahlkampf eine erste Euphoriebremse für die neue Partei, die zuvor bei Europa-, Kommunal- und Landtagswahlen von Erfolg zu Erfolg geeilt war. Der Bundestagswahlkampf aber wurde zur Zitterpartie, ein Scheitern ist nicht mehr ausgeschlossen. Wagenknecht hat inzwischen ihre politische Zukunft an das Überwinden der Fünf-Prozent-Hürde geknüpft.

Recke sieht ein Bündel möglicher Ursachen: ein medial vermitteltes Bild des BSW als »Verräter an ukrainischen Interessen« etwa oder eine Zuwendung zu SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz wegen dessen im Vergleich zu Grünen und CDU »scheinbar moderateren Positionen« in der Friedensfrage. Die Querelen rund um die Regierungsbildung in Thüringen, als die BSW-Spitzen in Bund und Land über Details des Koalitionsvertrags stritten, hätten Wähler verschreckt. Nicht zuletzt würden sich Menschen, die zwischen Linke und BSW schwanken, angesichts der Konstellation in den Umfragen für erstere entscheiden, um ihre Stimme nicht zu verschenken. Recke bleibt aber zuversichtlich, dass der Einzug in den Bundestag gelingt: »Ich in trotz der Zahlen gut gelaunt.«

Pellmann wiederum sieht das Scheitern der Ampel als »Wendepunkt« für seine Partei: »Die Menschen wollen nicht, dass das politische System immer weiter nach rechts gerückt wird.« Auch die Konzentration auf wenige, aber sozial brisante Themen habe geholfen – und eine Geschlossenheit, wie er sie zuvor lange nicht erlebt habe. Pellmann spricht von einer »neuen Herzlichkeit« und davon, dass Sitzungen der Fraktion oder im Bundesvorstand »wieder Spaß machen«.

Spaß hat Pellmann auch beim Straßenwahlkampf in Grünau. Gut gelaunt verteilt er Flyer, Kugelschreiber und die Taschentücher. »Die können alle raus«, sagt er. Zumindest bei der Linken sieht es derzeit nicht so aus, als würden sie am Wahlabend gebraucht, um Tränen zu trocknen.

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