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Ein »Dorf« für obdachlose Frauen

Ein Raum für sich: Auf dem Campus einer Hamburger Hochschule bietet eine Containersiedlung Frauen Unterkunft

  • Guido Sprügel
  • Lesedauer: 6 Min.
Das Containerdorf auf dem HAW-Campus bietet schon seit den 90ern obdachlosen Frauen Schutzräume.
Das Containerdorf auf dem HAW-Campus bietet schon seit den 90ern obdachlosen Frauen Schutzräume.

Manchmal können fünf Quadratmeter wie ein Himmelreich sein – zumindest für Personen, die vor dem Einzug in diese eigenen vier Wände obdachlos waren, und das als Frau. Nicht groß, aber meins. Eine Tür, die man schließen kann. Hinter der man für sich sein kann.

Auf dem Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg stehen sieben knallbunte Container auf einem Parkplatz, direkt an einer vielbefahrenen Straße. Und dennoch stellt sich in dem kleinen Containerdorf schnell ein Gefühl von Gemütlichkeit ein. Bis zu zehn Frauen finden in den Containern eine Heimat.

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Der Beginn des Projekts reicht so weit in die 90er Jahre zurück, dass sich Sozialarbeiter Thilo Graf von der Caritas gar nicht mehr an die Ursprungsidee erinnern kann. Er erinnert sich aber sehr gut an Andrea Hniopek, die das Projekt viele Jahre geprägt und erst kürzlich verlassen hat. Hniopek hat selbst als Studentin daran mitgearbeitet und es schließlich 2012 auf den Campus am Berliner Tor geholt. Und sie machte aus einem Winterhilfsprogramm ein ganzjähriges Angebot. »Die HAW hat ganz unkompliziert einen Teil des Parkplatzes zur Verfügung gestellt«, erzählt Graf, der das »Dorf« quasi von Hniopek übernommen hat.

Die Idee ist bis heute dieselbe geblieben. Angebunden an den Studiengang Soziale Arbeit entstand spendenbasiert das kleine Dorf. In ihm leben bis zu zehn Frauen gleichzeitig zusammen. Jede hat ein kleines Zimmer in einem der Container. Begleitet und unterstützt werden die Frauen von den Studierenden der Sozialen Arbeit. Das läuft nicht immer konfliktfrei – mitunter gibt es auch Abmahnungen wegen aggressiven Verhaltens. Insgesamt überwiegt aber das friedliche Miteinander.

In den ersten beiden Semestern bot Andrea Hniopek bis zu ihrem Weggang das dazugehörige Seminar an. Die Studierenden wurden dabei auf die Arbeit mit den Frauen vorbereitet. Teil des Seminars ist auch der Praxiseinsatz. In zwei Schichten sind immer zwei Studierende vor Ort. Von neun bis elf Uhr und von 18 bis 20 Uhr finden die Bewohnerinnen im Gemeinschaftsraum immer eine Ansprechpartnerin. In der Regel. Denn in erster Linie sollen Studentinnen an dem Projekt mitarbeiten. Zurzeit sind auch zwei Studenten dabei.

»Für die Bewohnerinnen ist es aber oft wichtig, eine Frau als Ansprechpartnerin zu haben«, erzählt Emelie Högele. Die 22jährige hat ihren Einsatz in dem Dorf sogar verlängert. »Eigentlich ist man nur im ersten und zweiten Semester im Projekt eingesetzt. Bei uns gab es aber eine so große Begeisterung im Seminar, dass zwölf Leute einfach weitergemacht haben«, erzählt sie. Einige Bewohnerinnen sind ihr ans Herz gewachsen.

Gerade für Frauen sei das Leben auf der Straße oft sehr hart. »Obdachlose Frauen sind weniger sichtbar – sie sind aber gleichzeitig auch extremer betroffen«, sagt Thilo Graf. Unter ihnen sei kaum eine, die keine Gewalt, vielfach sexualisierte, erlebt hat. Das Containerdorf sollte ihnen von Anfang an Schutz bieten. Denn spezialisierte Notunterkünfte für Frauen fehlten. In städtischen Gemeinschaftsunterkünften müssen oft viele Menschen in einem Zimmer leben.

Die Studentinnen Jule Radke, Emilia Högele und Anna Nguyen (v.l.n.r.) engagieren sich ehrenamtlich als Betreuerinnen im Containerdorf. Thilo Graf von der Caritas ist rund um die Uhr für die Bewohnerinnen erreichbar.
Die Studentinnen Jule Radke, Emilia Högele und Anna Nguyen (v.l.n.r.) engagieren sich ehrenamtlich als Betreuerinnen im Containerdorf. Thilo Graf von der Caritas ist rund um die Uhr für die Bewohnerinnen erreichbar.

Allein in Hamburg hat sich die Zahl der Obdachlosen laut dem Wohnungslosenbericht des Bundes in den vergangenen sechs Jahren verdoppelt. 3787 Menschen gelten in der Hansestadt als obdachlos. In der Statistik wird unterschieden zwischen Obdachlosen, also Personen, die gar kein Dach über dem Kopf haben, und Wohnungslosen. Zu letzteren werden die Nutzer des städtischen Winternotprogramms und von Notunterkünften ebenso gezählt wie diejenigen, die bei Bekannten unterkommen. Es sind überwiegend Frauen, die ihre Wohnungslosigkeit inklusive Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse beim »Couchsurfing« verstecken.

Gut 47 Prozent der Obdachlosen in der Hansestadt sind Nichtdeutsche. 73 Prozent sind Männer, 27 Prozent Frauen. Von den Bewohnerinnen des Containerdorfs kommen zwei aus Osteuropa, bei den anderen verteilt sich die Herkunft rund um den Planeten. Eine Frau stammt aus den USA. Die älteste Bewohnerin ist 74 Jahre alt. »Wir bieten auch Transfrauen einen Schutzraum bei uns«, erzählt Emilie Högele. Trans und queere Menschen sind oftmals noch mehr von Diskriminierung und Übergriffen auf der Straße betroffen. In Gemeinschaftsunterkünften gibt es keine Chance, dem zu entgehen.

»Bei uns kann jede Frau die Tür hinter sich schließen«, sagt Jule Radke, die ebenfalls im dritten Semester Soziale Arbeit studiert. Derzeit macht sie eine Schicht pro Woche im Dorf. In der Regel trifft man die Studierenden dann im Gemeinschaftsraum an. Dort sind eine kleine Küche und eine Waschmaschine. Diese wird aber nicht von den Bewohnerinnen genutzt. »Ein wichtiges Element des Projektes ist es, dass die Frauen immer auch rausgehen müssen«, erklärt Thilo Graf. Der »Selbstaktivierung« werde ein hoher Stellenwert beigemessen. »Keine soll sich den ganzen Tag in ihrem Zimmer einschließen, sondern am Leben teilnehmen oder auch in dieses zurückkehren.«

In wenigen Fällen gelingt dies auch. Viele Frauen kehren – zumindest teilweise – wieder auf die Straße zurück. Einige nach wenigen Wochen, einige leben aber schon viele Jahre in ihrem Container. Diese sind oft liebevoll eingerichtet. Draußen laden Bänke zum Verweilen ein. Trotz grauem Januar sieht man Blumenkübel und Dekoration. Durch die bunten Farben wirken die Container gleich freundlicher. »Die Schicksale sind natürlich manchmal ernüchternd«, erzählt Emilie Högele. »Viele Frauen kommen aus der Spirale der Obdachlosigkeit nicht heraus. Da spürt man schon eine gewisse Machtlosigkeit.« Die Gesellschaft kümmere sich einfach wenig.

»Viele Frauen kommen aus der Spirale der Obdachlosigkeit nicht heraus. Da spürt man schon eine gewisse Machtlosigkeit.«

Emilie Högele Studentin der Sozialen Arbeit und Betreuerin im Containerdorf

Die Stadt Hamburg unterstützt das Containerprojekt im Winter mit einem Stromzuschuss und beteiligt sich an der Ehrenamtspauschale für die Studierenden. Das restliche Jahr finanziert sich das Projekt durch Spenden. »Mittlerweile bekommen wir eine Ehrenamtspauschale von zehn Euro pro Stunde«, berichtet Anna Nguyen. Auch die 21jährige hat ihren Einsatz im Dorf verlängert. Für die Studentinnen ist der Job zum einen gut mit dem Studium vereinbar, zum anderen ist er ihnen auch ans Herz gewachsen.

Am Wochenende wird gemeinsam mit den Bewohnerinnen gefrühstückt. Die Studierenden kaufen dafür vorher ein. Derzeit fehlt durch den Weggang von Hniopek zwar das begleitende Seminar an der Uni, aber Thilo Graf versucht alles, um dies aufzufangen. Er selbst ist fünf bis sechs Mal pro Woche vor Ort und rund um die Uhr telefonisch erreichbar. Die Einarbeitung erfolgt immer durch bereits erfahrene Studierende. Alle 14 Tage findet eine Teambesprechung statt.

Die Regeln im Containerdorf wirken für Außenstehende auf den ersten Blick recht rigide. Alle zwei Wochen findet eine kurze Zimmerkontrolle statt und Besuch ist nur bis 19 Uhr gestattet. »Diese Regeln werden von den Frauen sehr gut angenommen. Es geht dabei um Fürsorge, die sie oftmals – noch – nicht für sich übernehmen können«, betont Emilie Högele. Anna Nguyen und Jule Radke pflichten ihr bei. »Die Besuchszeiten beugen nächtlichen Übergriffen vor. Manche Bewohnerinnen haben auch eine Prostitutionsgeschichte. Die Zimmerkontrolle soll nur sicherstellen, dass keine Gefahr für Leib und Leben besteht«, betont Radke.

Die Containerzimmer sind sehr begehrt. Freie Plätze sind oft schon nach wenigen Minuten vergeben. Da das Projekt darüber auch trans Frauen aufnimmt, kann es sich vor Anfragen kaum retten. Und so bleibt weibliche Obdachlosigkeit für die meisten Betroffenen weiterhin gefährlich – und gesellschaftlich oft unsichtbar.

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