- Kultur
- Soulmusik
40 Jahre Simply Red: Lackmustest für Loft-Lautsprecher
Vor 40 Jahren begann mit dem Coversong »Money’s Too Tight (to Mention)« die Langzeitkarriere von Simply Red
Wenn du jung bist, hörst du keine Fahrstuhlmusik. Vielmehr muss ein Song wie ein Raketenstart sein. Er muss dich auf schnellstem Weg in himmlische Gefilde kapitulieren, dich high machen. Oder wenigstens die emotionale Teenagerhölle – Liebeskummer, Sinnsuche, Knatsch mit den Eltern – erträglicher gestalten.
Ob bei dieser akustischen Psychotherapie Heavy Metal oder Kuschelrock zum Einsatz kommt, ist Geschmackssache. Ja, es gibt sogar ein Genre, das bereits im Namen auf den seelischen Aspekt von Musik verweist: Soul. Dessen Wurzeln liegen im Blues, der zwecks Tanzen mit Rhythmen unterlegt wurde. Also nannte man ihn der Einfachheit halber auch Rhythm & Blues.
Nun muss man leider erwähnen, dass die Entstehungsbedingungen des Soul in der Regel nicht allzu beseelt waren. Die Tonstudios von Motown, Stax und Atlantic waren Fabriken, die Hits abzuliefern hatten. Und wie in jeder Fabrik galt die Devise: Was sich gut verkauft, wird in Serie produziert. So entwickelte jedes Label seinen typischen Erfolgssound, weshalb man von Motown-Soul, Stax-Soul und Atlantic-Soul sprach.
Und doch überraschte es, dass ausgerechnet ein weißer Engländer zum erfolgreichsten Soulsänger der 80er und 90er werden sollte: Mick Hucknall.
-
Das alles geschah in den 60ern und frühen 70ern, der Blütezeit des Soul. Dann kam Disco. Wie ein flammendes Inferno fegte sie über den Soul hinweg. Er sollte sich nicht mehr davon erholen, führte fortan ein schattiges Nischendasein jenseits der Discokugel. Michael Jackson, dessen Wurzeln im Rhythm & Blues lagen, legte Wert darauf, nicht der King of Soul zu sein, sondern der King of Pop.
Diese Formulierung benutzte er erstmals 1985. Ein gutes Jahr für Traditionalisten. Cocktail-Jazz erlebte durch Sade und Matt Bianco einen zweiten Frühling. Das totgeglaubte Blümchen namens Folk blühte dank Suzanne Vega überraschend auf. Und die Presse traute sich wieder, das Wort »Soul« häufiger in den Mund zu nehmen. Ein gewisser Freddie Jackson (weder verwandt noch verschwägert mit der Jackson-Sippschaft) wurde als Soul-Entdeckung gefeiert. Mit seinem Debütalbum »Rock Me Tonight« schaffte er es bis auf Platz 10 der amerikanischen Charts, immerhin. Ulli Güldner verglich ihn im »Musikexpress« gar mit Marvin Gaye – aus heutiger Sicht eine leichte Übertreibung.
Es waren also keine schlechten Voraussetzungen, um mit Retroklängen Erfolg zu haben. Und doch überraschte es, dass ausgerechnet ein weißer Engländer zum erfolgreichsten Soulsänger der 80er und 90er werden sollte. Mick Hucknall wuchs in der Arbeiterstadt Manchester auf. Die Mutter verließ die Familie, als er drei Jahre alt war. Sein Vater, ein Frisör, zog ihn danach allein auf.
Mit Beginn der Pubertät funktionierte die Männergemeinschaft nicht mehr. Bei einem Konzert der Sex Pistols 1976 lernte der 16-jährige Mick Seelenverwandte kennen, mit denen er die Punkband Frantic Elevators (zu Deutsch: wildgewordene Aufzüge) gründete. Die Resonanz blieb überschaubar. Die erste Single kam erst 1979 heraus – zu spät, um noch vom Punkboom zu profitieren. Die vierte und letzte Single erschien 1982 und trug den Titel »Holding Back the Years«.
Zu jener Zeit bevorzugten junge Nordengländer längst eine andere Form der Ekstase. Wer etwas erleben wollte, besuchte sogenannte »Northern Soul«-Partys, die in Arbeiterclubs, Tanzhallen und Pavillons auf Seebrücken stattfanden. Dort liefen unbekannte Soul-Singles aus den 60ern, die von ebenso unbekannten Labels in nur geringen Stückzahlen produziert worden waren. Um bei einem solchen »All-Nighter« durchtanzen zu können, warf man Aufputschmittel ein. So nahmen die Northern-Soul-Feten bereits in den 70er Jahren die Techno-Partykultur der 90er vorweg.
Manchester war die Northern-Soul-Hochburg Großbritanniens und der DJ Roger Eagle ihr Pionier und Pate. Kein Engländer wusste besser über Rhythm & Blues Bescheid. Er besaß die Rare Grooves – die begehrten seltenen Scheiben aus Amerika, die die Leute von Samstagabend bis Sonntagmorgen um halb acht in Bewegung hielten. Roger Eagle sollte zum Mentor von Mick Hucknall werden. Die beiden freundeten sich an und verbrachten immer wieder Stunden damit, gemeinsam Musik zu hören. Durch Eagle wurde Hucknall zum Soulkenner.
Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.
Dieses Wissen hört man »Picture Book«, dem Debütalbum von Simply Red aus dem Jahr 1985, an. Gleich die erste Singleauskopplung »Money’s Too Tight (to Mention)« erinnert an ein Northern-Soul-Stück. Auch die langsameren Lieder orientieren sich an älteren Vorbildern. Das geht so weit, dass das entspannt swingende »Sad Old Red« als Barjazz der 50er durchgehen würde – wäre da nicht der für die 80er Jahre typische kristallklare, skalpellscharfe Klang.
Für den zeichnete der Produzent Stewart Levine verantwortlich. Der Talentscout einer Plattenfirma hatte ihn zum Londoner Debütauftritt von Simply Red eingeladen. Levine erkannte das Potenzial, aber auch die Schwächen: »Der Sänger war pure Magie, doch die Musik klang nach amerikanischer Retro-Soul-Revue. Ich traf mich mit Mick Hucknall und meinte zu ihm, es würde nicht genügen, die Vergangenheit aufleben lassen. Wir müssten etwas Neues, Unverbrauchtes abliefern.«
So kam es, dass »Picture Book«, obgleich auf Synthesizer verzichtet wurde, hochmodern wirkte. Soundtechnisch überzeugte das Album sogar die Abonnenten von Hifi-Zeitschriften. Es erfüllte als Referenz-CD zum Testen sündhaft teurer Lautsprecher fürs Designer-Loft seinen Zweck.
Vielleicht bekrittelten deshalb manche Rezensenten das Werk als »Yuppie-Soul«. Ein Missverständnis. Hier wurde der Künstler mit dem Konsumenten verwechselt. Nicht jeder Investmentbanker achtete darauf, worüber Mick Hucknall sang. Nämlich über Geldnöte, die gespaltene britische Gesellschaft, Einsamkeit und das Gefühl, ohne Mutter aufzuwachsen. In Simply Reds Soul steckte verdammt viel Blues. Vom gemalten Cover blickt ein in sich gekehrter, wehmütiger Mick Hucknall.
»Picture Book« verkaufte sich millionenfach. Mick Hucknall wurde über Nacht zum Star. Für Blues bestand nun kein Anlass mehr. Der Sänger kostete den unerwarteten Erfolg aus. Auch in sexueller Hinsicht. Das Nachfolgealbum trägt den Titel »Men and Women«. Das Cover zeigt einen verschmitzt lächelnden Mick Hucknall.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.