Rojava: »Eine Autonomie war nie das Ziel«

Khaled Davrisch von der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien spricht über das Abkommen mit der Übergangsregierung

  • Interview: Alieren Renkliöz
  • Lesedauer: 7 Min.
Massenprotest in der nordöstlichen Stadt Qamischli gegen die jüngste Welle sektiererischer Gewalt nach den Massakern an der alawitischen Minderheit im Westen Syriens
Massenprotest in der nordöstlichen Stadt Qamischli gegen die jüngste Welle sektiererischer Gewalt nach den Massakern an der alawitischen Minderheit im Westen Syriens

Milizen der selbsternannten Übergangsregierung haben in der Stadt Latakia Massaker an alawitischen Minderheiten begangen. Kurz danach beschließen die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) ein Abkommen über Minderheitenrechte für die Kurden mit dem Übergangspräsidenten Ahmad Al-Sharaa. Widerspricht sich das nicht?

Es geht hier nicht um die kurdischen Minderheiten, es geht um einen Waffenstillstand in ganz Syrien. Wir hoffen, dass die Angriffe auf die alawitische Bevölkerung in Latakia und Tartus aufhören.

Aber in den ersten zwei Punkten dieses Abkommens geht es ganz klar um die Minderheitenrechte der Kurden. Wie kann man jemandem trauen, der einem sagt, wir versprechen euch Minderheitenrechte, wenn gleichzeitig 1500 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet wurden?

In Punkt 3 haben wir klar und deutlich hineingeschrieben, dass ein Waffenstillstand in ganz Syrien benötigt wird. Das deutet ja darauf hin, dass wir nicht nur um die Rechte der Kurden besorgt sind, sondern um die aller Minderheiten und ethnischen Gruppen in Syrien. Niemand darf verfolgt werden. Das betrifft die Kurden, die Alawiten, die Drusen, das betrifft auch religiöse Minderheiten wie die Jesiden und die Christen.

Interview

Khaled Davrisch ist Repräsentant der Demokratischen Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien (DAANES) in Deutschland. Er spricht über die Zukunft der Region und der syrischen Kurd*innen nach dem Abkommen mit der Zentralregierung in Damaskus.

War es das mit der kurdischen Autonomie?

Die kurdische Autonomie – es war ja nie das Ziel, eine Autonomie wie im Nordirak zu errichten. Es geht darum, dass eine gewisse Selbstverwaltung erhalten bleibt. Die Menschen im Nordosten Syriens sollen ihre Rechte bekommen, unabhängig von Ethnie und Religion. Es geht auch darum, dass die Binnenflüchtlinge zurückkehren können. Diese Vereinbarung ist eher ein Positionspapier, wie es jetzt zum Beispiel die CDU/CSU und die SPD für eine Regierungskoalition miteinander verhandelt haben. Das ist auch bei uns so. Manches wird bis Ende des Jahres diskutiert, andere Punkte wie der Waffenstillstand müssen sofort umgesetzt werden. Es ist nicht so, dass jemand aus Damaskus kommt und jetzt in unseren Gebieten regiert. Wir sind alle Syrer, ob wir jetzt Kurden, Araber, Assyrer oder Drusen sind. Wir müssen jetzt Pässe ausstellen und Dokumente, Geburten registrieren, so was muss auch weitergehen.

Wird die SDF aufgelöst oder eine Teilstreitkraft? Gibt sie die Waffen ab?

Weder noch. Wir werden keine Waffen abgeben. General Mazlum Abdi hat wiederholt gesagt, wir sind ein Teil der neuen syrischen Armee und keine isolierte Streitkraft. Jetzt geht es auch darum, die Details zu liefern, wie die SDF in die neue syrische Armee integriert werden kann. Wie sich die SDF und das Verteidigungsministerium am Ende einigen, das ist noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Fakt ist, dass die SDF weiterhin die Selbstverwaltungsgebiete schützen wird, aber gleichzeitig auch ganz Syrien. Die SDF kann als Unterstützung und als Stärke integriert werden. Die HTS-Miliz oder die neue Armee könnte davon lernen: Disziplin ist eine unserer Stärken.

Sie vergleichen das Abkommen mit einem Positionspapier. Wie bindend ist diese gemeinsame Erklärung?

Sowohl General Mazlum Abdi als auch Präsident Ahmad Al-Sharaa haben Zusagen gemacht, dass man jetzt an den Punkten des Abkommens arbeiten wird. Wir verschriftlichen das, was wir beim ersten Treffen mündlich vereinbart haben. Wir wollen der Welt und den Syrern und Syrerinnen zeigen: Wir in Syrien sind bereit zusammenzuarbeiten. Wir wollen uns nicht spalten. Damaskus will uns nichts diktieren wie zu Assads Zeiten, sondern da ist die Bereitschaft für einen neuen, gemeinsamen Prozess und einen Dialog. Dieses Abkommen ist ein ehrlicher Anfang.

Al-Sharaa steht unter dem Einfluss des türkischen Präsidenten Erdoğans. Dieser lässt Rojava völkerrechtswidrig bombardieren. Wie kann in diesem Umfeld kurdisches Leben sichergestellt werden?

Das ist der Punkt, weswegen wir sagen, dieser Waffenstillstand muss landesweit gelten. Es darf nicht passieren, dass in einer Region Waffenstillstand herrscht, aber im Norden und Osten nicht. Externe Kräfte müssen sich heraushalten. Es braucht internationalen Druck auf die Türkei, damit sie Rojava nicht angreift. Nur so kann Raum für den Aufbau eines neuen Syriens entstehen – gemeinsam an einem Tisch.

Erdoğan hat schon in Richtung der SDF gedroht, dass bald niemand mehr da sein werde, um den Kurden den Rücken zu stärken. Inwiefern hängt dieses Abkommen mit einem drohenden Verlust der Unterstützungdurch die USA zusammen?

Es gibt ja immer diese Gerüchte, dass die amerikanischen Streitkräfte beziehungsweise die Anti-IS-Koalition sich zurückziehen würden. Fakt ist: Es gibt eine Ankündigung für einen Abzug aus dem Irak Ende 2025 und aus Syrien Ende 2026. Dass man vorher abzieht, dafür gibt es keine Informationen und keine Anlässe. Wir haben uns als verlässliche Partner im Kampf gegen den Terrorismus erwiesen, wir haben den Islamischen Staat besiegt. Wenn sich jetzt die US-Streitkräfte zurückziehen und die SDF nicht mehr unterstützen würden, dann würde der IS wieder stärker. Es ist nicht im Sinne der internationalen Gemeinschaft, dass Syrien in der jetzigen Phase dem IS überlassen wird. Das erkennen auch unsere Partner und wollen bleiben, bis eine Lösung für ganz Syrien gefunden ist.

Teil dieser Lösung soll sein, dass die SDF Al-Sharaa dabei unterstützt, die »Überreste des Assad-Regimes und alle Bedrohungen von Sicherheit und Einheit« zu bekämpfen. Mit solchen Worten haben die Islamisten ihre Massaker begründet. Legitimiert die SDF mit diesem Schritt zu diesem Zeitpunkt die Position der Interimsregierung?

Wir legitimieren hier nichts. Wir haben das, was passiert ist, scharf kritisiert und schon vor dem Abkommen eine öffentliche Erklärung abgegeben, dass wir besorgt sind. Doch auch wir haben in unseren Selbstverwaltungsgebieten Assad-Getreue verfolgt. Es gab ja zwei Bezirke im Nordosten Syriens, die noch vom Regime kontrolliert wurden, einmal in Hasakeh und einmal in Qamischlo. Als Assad gestürzt wurde, haben wir diese Gebiete eingenommen. Aber Assads Getreue zu verfolgen, heißt nicht, Frauen, Zivilisten, Alte und Kinder zu töten. Das bedeutet nicht, dass man Assad-Anhänger auf der Straße erschießen oder aufhängen darf. Nein, es gibt eine Verfassung, ob das jetzt die alte oder die neue ist, es gibt einen Gesellschaftsvertrag. Man muss diese Menschen inhaftieren und Verfahren gegen sie einleiten, die in gerechten Strafen münden. Das ist wichtig. Töten bringt nichts, so schafft man nur weiteren Hass.

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Was verlangen Sie nun von Al-Sharaa?

Präsident Ahmad Al-Sharaa muss aufklären und diejenigen, die das Verbrechen begangen haben, zur Rechenschaft ziehen. Wir geben Ahmad Al-Sharaa kein grünes Licht nach dem Motto, er soll so weitermachen wie bisher. Nein, wir stehen weiterhin zu unseren Werten: Zivilisten müssen geschützt werden, Minderheiten müssen geschützt werden, Frauen und Kinder müssen geschützt werden, ältere Menschen auch. Es heißt oft, dass die Alawiten unter Assad das beste Leben gehabt hätten, dabei wurden auch viele Alawiten als politische Gegner in Gefängnisse gesteckt. Dieser Hass und die Propaganda dürfen sich nicht mehr verbreiten. Wir als Syrer und Syrerinnen müssen zueinander finden, einander verzeihen und versöhnen, das ist wichtig. Wir müssen uns gegenseitig akzeptieren.

Was einen stutzig macht bei diesem gegenseitigen Akzeptieren, das auch Al-Sharaa regelmäßig betont, sind die Angriffe auf Zivilisten. Das waren Al-Sharaas Soldaten. Entweder die Milizen haben die Massaker ohne seine Einwilligung begangen, dann ist er ein schwacher Anführer, der seine Leute nicht im Griff hat, oder sie haben eben doch getan, was er wollte und er meint es nicht ernst mit der Akzeptanz.

Genau, und da müssen wir jetzt schauen, ob er das, was er gesagt hat, auch umsetzt. Er hat zugelassen, dass eine Untersuchung stattfindet, um das Ganze zu untersuchen; er hat sogar zugelassen, dass auch von außen jemand kommt. Syrien ist noch nicht stabil und hat noch keine Strukturen entwickelt. Wie verhindern wir, dass solche Massaker sich wiederholen? Daran, ob die Täter der Massaker an den Alawiten zur Rechenschaft gezogen werden, wird sich zeigen, wie ernst es Präsident Ahmad Al-Sharaa mit seinen Worten meint. Wir wollen auf jeden Fall Rechtsstaatlichkeit aufbauen. Lassen Sie uns einfach mal abwarten, was in den nächsten Tagen geschehen wird. Ich kann auch nicht in die Zukunft blicken.

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