- Politik
- Geopolitik
Frankreich: Mittelmacht mit Anspruch
Nicht nur Deutschland will in Europa eine Führungsrolle spielen. Frankreich auch
Es ist eine ungewöhnliche Szene bei der Pressekonferenz des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Mittendrin klingelt das Telefon. »Kann ich in fünfzehn bis zwanzig Minuten zurückrufen?«, fragt Selenskyj. Es sei der französische Präsident Emmanuel Macron gewesen, erklärt er den Journalisten. Sie telefonierten durchschnittlich einmal am Tag miteinander. Mit Sätzen wie diesem demonstriert der ukrainische Präsident, dass er keineswegs außenpolitisch isoliert ist. Auch nicht angesichts der Gespräche zwischen den USA und Russland, ohne die Europäer und ohne direkte Mitsprache der Ukraine. Und Macron präsentiert sich als derjenige unter den Staatsmännern der Führungsmächte der EU, der am deutlichsten sichtbar außenpolitische Initiative angesichts der Verstimmungen mit den USA entwickelt.
Macron war der erste Staatschef der EU, der bei Donald Trump seinen Antrittsbesuch machte. Und er machte dabei deutlich, dass er sich nicht als Präsident einer europäischen Mittelmacht sieht, sondern vielmehr als gleichrangig mit dem Präsidenten der USA. Gleichwohl weiß Macron natürlich, dass die Nato durch Trumps Kurs faktisch nur noch auf dem Papier existiert. Für ihn ein Grund mehr, auf die zügige Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik zu drängen. So warb er beim letzten EU-Gipfel für einen deutlich höheren Rüstungsetat der EU-Mitgliedsländer und versucht gleichzeitig, Großbritannien in dieses Projekt einzubinden.
Gegenüber den USA und Russland demonstrieren die Europäer ihre Einigkeit. Es versteht sich fast von selbst, dass Macron Frankreich dabei in einer Führungsrolle sieht. Schließlich ist das Land eine Atommacht und wäre als einziger EU-Staat wenigstens annähernd in der Lage, den Wegfall der USA als nuklearen Schutzschirm zu kompensieren. Vorbei sind die Zeiten, in denen die atomare »Force de Frappe« des Landes als »Force de Farce« verspottet werden konnte. Immerhin verfügt das Land über annähernd 1000 Nuklearsprengköpfe.
Trumpfkarte Atomwaffen
Und Macron scheint entschlossen, trotz der bereits gegenwärtig immensen Staatsverschuldung Frankreichs dessen Atomstreitkraft zügig und deutlich auszubauen. Im ostfranzösischen Nato-Luftwaffenstützpunkt Luxeuil-les-Bains erklärte er diese Woche, dieser werde »für die nukleare Abschreckung ausgebaut und verdoppelt«. 1,5 Milliarden Euro sollen dort in den nächsten sechs Jahren investiert werden. Luxeuil werde zum wichtigsten Stützpunkt der luftgestützten Abschreckung ausgebaut und mit den Hyperschallraketen und den modernsten Rafale-Kampfjets französischer Produktion aufgerüstet. Die Phase der nuklearen Abrüstung ist offenkundig vorbei. Und auch wenn Macron für ein gemeinsames EU-Militärprojekt wirbt, stellt er doch gleichzeitig klar, dass die alleinige Verfügungsgewalt über die Atomwaffen natürlich bei Frankreich liege.
Vollmitglied der Nato ist Frankreich erst wieder seit 2009. Der konservative Präsident Nicolas Sarkozy hatte das Land in die Nato zurückgeführt, aus deren integrierter militärischen Kommandostruktur es sich 1966 unter dem konservativen Präsidenten Charles de Gaulle zurückgezogen hatte. Macron greift jetzt dessen anti-atlantische Außenpolitik faktisch wieder auf.
Das Überleben von Macrons Regierung ist vom Wohlwollen der extremen Rechten abhängig.
Ein Vorgehen, das auch auf den Beifall innenpolitischer Gegner stößt. Die Nadelstiche, die der Präsident aus diplomatischen Gründen nicht selbst tätigen kann, werden von anderen nur zu bereitwillig übernommen. Raphaël Glucksmann, Europaabgeordneter und Führer des rechtssozialdemokratischen Place Publique, forderte die Rückgabe der New Yorker Freiheitsstatue. Die USA, so sein Vorwurf, würden dem Geschenk Frankreichs nicht mehr gerecht. Trumps Sprecherin reagierte harsch: »Die Franzosen sprechen nur dank der Vereinigten Staaten von Amerika jetzt nicht Deutsch.«
Glucksmann, der bereits als Kandidat für die Präsidentschaftswahl 2027 gehandelt wird, prescht aus innenpolitischen Gründen vor. Einerseits signalisiert er den Anhängern Macrons, dass er dessen außenpolitischen Kurs stützt. Andererseits steigern solche Vorstöße natürlich die eigene Bekanntschaft.
Auch für Macron bieten die außenpolitischen Konflikte die Gelegenheit, seinen drastischen Popularitätsverlust zu stoppen und von seinen innenpolitischen Misserfolgen abzulenken. Besonders die eklatanten sozialpolitischen Versäumnisse und das Schwächeln der französischen Wirtschaft werden ihm zur Last gelegt. Gleichzeitig wird ihm sein unausgesprochener Pakt mit der extremen Rechten zum Vorwurf gemacht. So steht aktuell das Kopftuchverbot bei Sportwettbewerben stark in der Kritik. In ganz Frankreich gibt es am 22. März Demonstrationen gegen Rassismus und die extreme Rechte, zu denen ein Personenbündnis aus Kunst, Kultur und Wissenschaft aufgerufen hat.
Die Macht der Rechten wächst
Tatsächlich ist die extreme Rechte das größte Problem Macrons. Falls Marine Le Pen bei einem derzeit laufenden Prozess wegen Zweckentfremdung von Mitteln des EU-Parlaments nicht die Wählbarkeit entzogen werden sollte, was durchaus möglich ist, hätte sie angesichts der Schwäche des liberalen und konservativen Lagers sowie der neuerlichen Zerstrittenheit der Linken gute Chancen, die Wahlen 2027 zu gewinnen.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Angesichts einer Präsidentin, die ideologisch durchaus vergleichbar mit Putin wie mit Trump ist, wären alle Maßnahmen, die zu einer militärischen Stärkung Europas getroffen werden, nur noch Makulatur. Außenpolitisch wäre damit alles konterkariert, was Macron gegenwärtig in die Wege zu leiten versucht. Macron ist in der Zwickmühle: Für ihn ist es unverzichtbar, alles zu unternehmen, damit die extreme Rechte in Frankreich nachhaltig geschwächt wird. Andererseits ist das Überleben seiner Regierung vom Wohlwollen eben dieser extremen Rechten abhängig. Eine Renaissance des Gaullismus scheint so kaum möglich.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.