Wider die Logik der Gewalt

Zur Aktualität des Friedensplans von Hans Thirring – Anstoß für eine krisen- und kriegsfreie Weltordnung

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 7 Min.
Sag mir, wo die Blumen sind ... Frieden schaffen ohne Waffen!
Sag mir, wo die Blumen sind ... Frieden schaffen ohne Waffen!

In Zeiten forcierter Kriegsvorbereitung ein Buch mit dem Titel »Mehr Sicherheit ohne Waffen« vorzulegen, verspricht ein starkes Stück. Werner Wintersteiner, Germanist und Friedensforscher an der Universität Klagenfurt und dort Gründer sowie bis zu seiner Pensionierung Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedenspädagogik, hat es gewagt, einen Gegenentwurf auszugraben und ins Heute zu transformieren. Hier wird ein historischer Zeuge aufgerufen, der wie die meisten Pioniere einer friedlichen Koexistenzpolitik längst vergessen, aus dem öffentlichen Bewusstsein gedrängt worden ist. Die 1950er bis 1980er Jahre waren trotz und gerade wegen Krisen und Kriegen weltweit geprägt durch das Konzipieren von Strategien, um aus der tödlichen Logik der Blockauseinandersetzung auszubrechen. Politiker, Wissenschaftler, Friedensbewegung und mitunter auch Parteien waren engagiert, stellvertretend seien hier Polens Außenminister Adam Rapacki mit seinem Friedensplan 1957 sowie die westdeutschen Politologen Dieter S. Lutz, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik und Vorsitzender des Stiftungsrats der Deutschen Stiftung Friedensforschung, sowie Horst Afheldt, Leiter der 1970 mit der Berufung des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker gegründeten sicherheitspolitischen Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut, als Stichwortgeber für den maßgeblich auch von der SPD mitgetragenen Ost-West-Dialog genannt.

Zur Phalanx der die Kalten Krieger provozierender Köpfe gehörte der österreichische Bundesrat Hans Thirring. Der Physiker hatte früh die Konsequenzen von Kernwaffen- und Interkontinentalraketen erkannt und war überzeugt, dass »die drückende Last der Rüstungsausgaben und dazu die drohende Gefahr einer völligen Vernichtung durch einen Atomkrieg als derart unerträglich empfunden wird, dass der Ruf nach Abrüstung und friedlicher Koexistenz immer lauter und dringlicher wird«. Er war sich allerdings auch der Grenzen seiner Autorität und internationalen Aufmerksamkeit in dem kleinen, damals von ÖVP und SPÖ regierten Alpenland bewusst, zumal in Zeiten, da die westlichen Staaten einem militanten Antikommunismus verpflichtet waren und ein »politisierender Professor« rasch in den Verdacht geraten kann, ein »Agent Moskaus« zu sein.

Dessen ungeachtet zog Thirring seine Schlüsse, diktiert von seinem Gewissen, und legte 1963 einen Plan zur einseitigen Abrüstung Österreichs vor. Dieser Schritt eines sich seinerzeit als neutral verstehenden Landes sollte Initialzünder für eine neue, friedvollere Sicherheitspolitik auf der Weltbühne sein: Denn für einzelne, durch ihre geografische und politische Lage besonders begünstigte neutrale Länder könnte sich eine in der Geschichte vielleicht noch nie dagewesene Gelegenheit bieten, einen Dienst der ganzen Welt zu erweisen und gleichzeitig daraus selbst einen erheblichen Gewinn zu erzielen. Konsequente Abrüstung, garantierte Grenzen und Verträge mit den Nachbarstaaten, die Gebietsstreitigkeiten schlichten, schienen ihm möglich. Eine solche Neutralität wäre auch die Voraussetzung für die jeweiligen Staaten, als Vermittler in Konflikt-, Krisen- und Kriegsregionen zu agieren.

Werner Wintersteiner kommt der Verdienst zu, Thirrings Friedensplan wieder ausgebuddelt und 13 Autoren gewonnen zu haben, die dessen Ernsthaftigkeit im historischen Kontext, kurz nach den Krisen um Berlin 1961 und Kuba 1962, zu analysieren. Das Jahr 1963 war insofern ein guter Zeitpunkt für eine solche Initiative, da die politischen Führer in den USA und der UdSSR in den thermonuklearen Abgrund geblickt und begriffen haben, dass sie bei einer weiteren Konfrontation mit dem Untergang der Menschheit spielen würden und daher friedliche Koexistenz notwendig sei.

In zwei weiteren Kapiteln diskutieren die Autoren Thirrings mögliche aktuelle Bedeutung sowie internationale Erfahrungen mit pazifistischen Konzepten. Solche Vorschläge fanden im damaligen Österreich keinen praktischen Widerhall, aber die Idee war in der Welt. Dies veranschaulicht Andreas Gross in seinem Beitrag über die Initiative »Schweiz ohne Armee« Ende der 80er Jahre, die immerhin mehr als eine Million Bürger und Bürgerinnen unterstützen. Und der slowenische Kulturwissenschaftler Marko Hren berichtet, wie zu Zeiten der Auflösung Jugoslawiens auch in seiner Heimat ernsthaft ein »Slowenien ohne Armee« diskutiert worden ist. Der österreichische Philosoph Leo Gabriel verweist auf das weltweit einzige Beispiel eines Staates ohne Armee: Costa Rica.

Thirring erwies sich als gewitzt, hartnäckigen antikommunistischen und antisowjetischen Zeitgeist zu parieren wie auch Misstrauen im Osten zu begegnen, indem er etwa genüsslich einen Satz aus einem Vortrag des KPdSU-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow 1960 in Wien zitierte: »So wie man den Menschen nicht mit dem Knüppel ins Paradies treiben kann, fällt es uns auch nicht ein, die Völker durch einen Krieg in den Kommunismus treiben zu wollen.« Der österreichische Friedensfreund machte am Beispiel der gerade überstandenen Kuba-Krise deutlich, dass der Kommunismus nicht auf territoriale Aggression und Unterwerfung aus sei, sondern von der Überzeugung getragen sei, dass die inneren Widersprüche in einem Lande die Menschen zur Revolution bringen würden.

Vor dem Hintergrund der heutigen Kriege und militärischen Ambitionen dürfte auch Thirrings Analyse des Winterkriegs 1939/40 der Sowjetunion gegen Finnland bedenkenswert sein: »Jeder wirkliche Kenner der Kreml-Politik wird ... zustimmen, dass für die maßgebenden Männer der Sowjetunion das Bestehen einer befriedeten Grenze (insbesondere dann, wenn diese Befriedung durch Abrüstung einer Seite noch gebührend unterstrichen sein wird) viele hundertmal wichtiger ist als der allfällige Besitz weiter westlich gelegener Militärstützpunkte, deren Wert bei zunehmender Reichweite und Zielsicherheit der Interkontinentalraketen von Jahr zu Jahr geringer wird.« Diese Wertung entsprang nüchterner Betrachtung der Interessen beiderseits und der praktischen Politik der konkurrierenden Staaten, abseits politischen und medialen Schürens von Angstpsychosen, nicht zufällig auch zum Wohle der Rüstungsindustrie.

So spannend der Anspruch Thirrings 1963 war und so notwendig es ist, seine Ideen dem Vergessen zu entreißen – aus der Sicht des Rezensenten sind sie kaum maßstabgetreu auf die Gegenwart zu übertragen. Damals standen sich zwei von Washington und Moskau geführte, konträre Gesellschaftssysteme gegenüber, die das andere zu übertrumpfen versuchten und dafür auch auf das sprichwörtliche »letzte Gefecht« nicht verzichten wollten, auch wenn dieses den Untergang der Menschheit bedeuten würde.

Mit dem Untergang des Realsozialismus hat sich die Welt grundlegend gewandelt, mit dem Wiedererstarken Russlands als Großmacht und dem fordernden Erwachen Chinas als ebenbürtige Konkurrenten der USA und des Westens haben sich die internationalen Spielregeln geändert. Hier steht sich nicht mehr kapitalistische und sozialistische Ideologie gegenüber, sondern es prallen Nationalismen und Hegemonialansprüche aufeinander. Die im Kalten Krieg noch neutralen Staaten sind dabei oder haben es schon getan, ihre politische und militärische Neutralität preiszugeben. Der österreichische General im Ruhestand Günther Greindl hält eine unbewaffnete Neutralität für nicht (mehr?) möglich. Seine Mahnung ist durchaus ernst zu nehmen: »Die Sicherheit eines Staates ruht ... auf drei Säulen, der Demokratie, der Diplomatie und der Defension.« Zugleich warnt er sein Land, sich dem westlichen Luftverteidigungssystem »Sky Shield« anzuschließen. »Das Friedensprojekt EU ist im Kielwasser der Nato-neu auf einem geopolitischen Irrweg, der Europa womöglich zum dritten Mal in etwas mehr als einem Jahrhundert in ein Schlachtfeld verwandelt.«

Unter heutigen Bedingungen ist wohl tatsächlich ein völlig neuer Ansatz zielführender als alle bisherigen – auch wenn dieser die politisch und militärisch Verantwortlichen noch mehr ins Grübeln bringen würde. Ausgang der 80er Jahre sind solche Konzepte bereits angedacht und partiell auch im Rahmen von Verhandlungen zwischen den beiden Militärblöcken Nato und Warschauer Vertrag auch ausgetestet worden. Die Friedensforscherin Christine Schweitzer bekräftigt – vielleicht mit etwas zu viel Optimismus – die Aktualität von Strategien einer defensiven Verteidigung, der strukturellen Nichtangriffsfähigkeit und zivilen Sozialen Verteidigung.

Unterm Strich bleibt, nicht die Erlangung von Kriegstüchtigkeit, sondern nur der Mut zur Friedenstüchtigkeit kann das Überleben der Menschheit ermöglichen. Noch einmal sei der österreichische General zitiert: »Der Krieg in der Ukraine ändert nichts daran, dass die EU und Russland Nachbarn sind, die auf demselben Kontinent leben. Diese geopolitische Konstante bleibt der Angelpunkt für eine europäische Sicherheitsarchitektur und einen dauerhaften Frieden in Europa.«

Werner Wintersteiner (Hg.): Mehr Sicherheit ohne Waffen. Zur Aktualität von Hans Thirrings Friedensplan. Promedia, 248 S., br., 24 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.