Dokumente des Pazifismus

Das Hamburger »Archiv Aktiv« sammelt Zeugnisse des gewaltfreien Widerstands

  • Volker Stahl
  • Lesedauer: 7 Min.
Josephine Jänicke betreut das Archiv Aktiv, in dem Dokumente von gewaltfreien Friedens-, Umwelt- und Anti-Atom-Gruppen gesammelt werden.
Josephine Jänicke betreut das Archiv Aktiv, in dem Dokumente von gewaltfreien Friedens-, Umwelt- und Anti-Atom-Gruppen gesammelt werden.

Ein unscheinbares Bürohaus im Hamburger Stadtteil Hammerbrook: In dem trostlos wirkenden Gewerbegebiet, in das sich sonst kaum jemand verirrt, befindet sich seit 2011 das Archiv für gewaltfreie Bewegungen. Ein klappriger Lastenaufzug führt hinauf in den vierten Stock, am Ende eines dunklen Flures beginnt das Reich von Josephine Jänicke. In fünf Räumen, einer davon wird auch als Büro genutzt, stapeln sich weißgraue Kartons mit Aufschriften wie »Gewaltfreie Blockaden von Atomwaffenlagern, Presse. 1982« oder »Bürger gegen Bunker (1) 1985/1986, oben«. Wer sich mit gewaltfreien Bewegungen wissenschaftlich befassen will, wird hier fündig. Ergänzt wird die Dokumentensammlung durch Transparente und Plakate von Aktionen und Demonstrationen, die schon Jahrzehnte zurückliegen. Die Artefakte werden sorgsam behandelt.

Josephine Jänicke führt durch das schmucklose »Archiv Aktiv«, wie sich die umfangreiche Sammlung von Unterlagen aus der Friedens-, Anti-Atom- und Umweltbewegung nennt. »Unser Archiv umfasst etwa 200 Regalmeter und beginnt 1945, allerdings nur für West-Deutschland«, erklärt die 63-Jährige. »Vor 1989 waren Dokumente aus der DDR nicht zugänglich und nach deren Zerfall gab es schnell viele freie Archive von Oppositionsgruppen«, begründet sie die Beschränkung auf die westdeutschen Bewegungen. »Von daher macht es wenig Sinn, wenn wir diese DDR-Materialien zusätzlich sammeln.«

Ein Mangel an Zeitschriften, Flugblättern oder Schriftverkehr aus der westdeutschen gewaltfreien Bewegung besteht nicht. Im Gegenteil. »Wir bekommen nicht nur Nachlässe von ehemals Aktiven, sondern auch Vorlässe.« Das sind jene Unterlagen, die von Gruppen oder Einzelpersonen stammen, die diese dem Archiv noch zu Lebzeiten zur Verfügung stellen. »Als Archivarin brauche ich eine Engelsgeduld«, seufzt Jänicke. »Wenn die Leute in Aktion sind, sind sie mit anderem beschäftigt, als uns ihre Unterlagen zur Verfügung zu stellen, auch in der Zeit danach noch. Bei manchen muss man nach 10 bis 15 Jahren nachfragen. Dann befinden sich die Ordner oftmals im Keller, meistens sind sie schon feucht, und ich als Archivarin muss das ausbaden.«

»Die ganz kleinen Dinge sind für mich als Archivarin manchmal die spannendsten.«

Josephine Jänicke Archiv Aktiv

Kürzlich erhielt das Archiv den Nachlass von Wilfried Hüfler, 1980 Mitgründer der Grünen, der 2015 im Alter von 83 Jahren verstarb. Als »Teilbestand« enthält der Nachlass auch Unterlagen über Hartmut Gründler, ein frühzeitiger unbeugsamer Anti-Atomaktivist, der sich am 16. November 1977 vor der Petrikirche in der Hamburger Innenstadt mit Benzin übergoss und fünf Tage später an den Verbrennungen starb. Die Selbstverbrennung war als Fanal gegen die Pro-Atompolitik der SPD-geführten Bundesregierung unter dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt gedacht. Hüfler hatte zuletzt an einer Biografie über Hartmut Gründler gearbeitet.

Genutzt wird das Archiv in der Regel von jungen Wissenschaftlern, die hier Quellenstudium betreiben können. Manchmal fördern diese Besucher auch unerwartet kleine Schätze zutage wie etwa ein Doktorand, der auf eine Sitzblockade Ende der 1950er-Jahre gestoßen war, die in der kirchlich-pazifistischen Zeitschrift »Stimme der Gemeinde« dokumentiert war. Die Blockade fand vermutlich 1959 in Dortmund-Brackel statt und richtete sich gegen die Stationierung von britischen Atomraketen. Jänicke: »Ich hatte von dieser Aktion noch nie was gehört. Der Doktorand war überglücklich, ich war es auch.« Der junge Wissenschaftler verließ das Archiv mit einem ganzen Stapel von Kopien. »Die ganz kleinen Dinge sind für mich als Archivarin manchmal die spannendsten«, kommentiert Jänicke den Fund.

Den meisten Raum im Archiv nimmt allerdings der Komplex »Mutlangen« ein. Der kleine Ort im Regierungsbezirk Stuttgart erlangte in den 1980er-Jahren weltweite Berühmtheit, weil hier im Rahmen des Nato-Doppelbeschlusses Pershing-II-Raketen stationiert werden sollten, die mit Atomsprengköpfen ausgestattet werden konnten. In Mutlangen gab es immer wieder Blockaden und Demonstrationen. An den Blockaden nahmen im Jahr 1983 unter anderem die Literatur-Nobelpreisträger Heinrich Böll und Günter Grass teil. Der damalige Innenminister von Baden-Württemberg antwortete auf die Frage, warum er die versammelte Prominenz nicht per Polizeieinsatz abtransportieren ließe, angeblich mit den Worten: »Ich werde der Weltpresse doch nicht das Schauspiel bieten, den Nobelpreisträger Böll von deutschen Polizisten von der Straße tragen zu lassen.«

Weniger bekannte Blockierer wurden nach der Stationierung der Raketen hingegen wegen Nötigung zu Geldstrafen verurteilt. Die eigenwillige Begründung: Auch eine gewaltfreie Aktion gelte als Gewalttat, da sie den freien Willen der von der Aktion Betroffenen beschränkt. Allerdings hob das Bundesverfassungsgericht diese Urteile später wieder auf.

In Mutlangen dabei war auch Josephine Jänicke, als »schwerbehindertes Kind in der totalen Provinz aufgewachsen« und seit 1979 Aktivistin in der Friedensbewegung. Gegen die gebürtige Lübeckerin, seit 1984 »Vollzeitaktivistin«, liefen 35 Strafverfahren. 16 Monate saß sie wegen Sitzblockaden gegen die Stationierung von Atomraketen im Gefängnis. Später studierte Jänicke zwei Semester Jura, engagierte sich gegen Waffenexporte und baute seit 1999 das Mutlangen-Archiv auf – der Grundstock des heutigen Archiv Aktiv.

Auch Zeitschriften werden in dem Archiv sorgsam aufbewahrt.
Auch Zeitschriften werden in dem Archiv sorgsam aufbewahrt.

Zweitgrößter Posten im Archiv sei die »Förderation gewaltfreier Aktionsgruppen« (FöGA) schildert Jänicke: »Es handelt sich hier um ein Netzwerk aus dem anarchistischen Raum, dessen Teilnehmer Aktionen zu verschiedenen Themen wie etwa zu Gorleben gemacht haben.« Die FöGA wurde 1980 in der BRD als basisdemokratisches Netzwerk gegründet und gab die Zeitschrift Graswurzelrevolution heraus, die es heute noch gibt (Credo: »Für eine gewaltfreie herrschaftslose Gesellschaft«). Damit orientierte sich die FöGA sprachlich an dem US-amerikanischen »Grasrootmovement«, war aber radikaler in ihren Zielen. Die westdeutsche Bewegung verstand sich als anarchistisch-gewaltfrei, pazifistisch und feministisch und bot wohl auch all jenen eine politische Heimat, die sich von dem dogmatischen Führungsanspruch der maoistischen K-Gruppen abgestoßen fühlten. Ende der 1990er-Jahre löste sich die FöGA auf.

Doch wenn Aktionen wie etwa Blockaden nach herrschender Rechtsauffassung als »Gewalt« gelten – siehe die Mutlangen-Urteile, oder jene gegen Aktivisten der inzwischen umbenannten »Letzten Generation« –, stellt sich die Frage, nach welchen Kriterien das Archiv seine Dokumente auswählt. Josephine Jänicke sieht das entspannt: »Ich muss da nichts groß ausschließen, weil Steinewerfer gehen eh nicht zu uns. Abgesehen davon müssen wir ja nicht den Gewaltbegriff der Herrschenden übernehmen. Ich verstehe mich zwar als gewaltfrei, will aber militanten Gruppen nicht das Existenzrecht absprechen.« Im Zweifel werden angebotene Unterlagen übernommen, auch wenn die Frage der Gewaltfreiheit nicht ganz geklärt sei, zumal Gewaltfreiheit ein »politischer Begriff« sei und dem Wandel in der Bewertung unterliege. »Als Archivarin steht es mir nicht zu, zu entscheiden, das ist gewaltfrei, das nicht«, sagt Jänicke. »Ich bin dazu da, Sachen zu erhalten und nicht zu zensieren.«

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Skeptisch äußert sie sich zur Frage der Digitalisierung. »Wir sind ein reines Papierarchiv. Wenn ich Papier archiviere, kann ich davon ausgehen, dass es etwa 200 Jahre hält.« Anders sei es bei der Digitalisierung, da Programme und Speichermedien schon nach wenigen Jahren veralten. Dateien auf Disketten seien mittlerweile verloren, die Programme jener Zeit gibt es nicht mehr, die klobigen Geräte aus der Frühzeit der Digitalisierung wurden ausgemustert. Jänicke schildert das abschreckende Schicksal eines Privatarchivs: »Ein Freund hatte seine Fotos digitalisiert, dann ist ihm der Computer verreckt, er hatte aber zwischenzeitlich die Bilder weggeworfen – ein absolutes Drama.«

Ein Dauerthema des Archivs sei die stets »sehr wackelige« Finanzierung. Der größte Posten ist die Miete. Zwar sind die Räume selbst für Hamburger Verhältnisse noch sehr günstig, die Warmmiete für 113 Quadratmeter beträgt rund 1000 Euro, doch für das Archiv ist das immer noch zu teuer. Was durch Vermietung von Ausstellungsexponaten und Spenden an Geld hereinkommt, reicht jedenfalls nicht. Daher wird überlegt, nach Bremen auszuweichen, wo man auf bezahlbare Gewerbemieten hofft, zumal auch der Platz allmählich knapp werde. Aber auch die Suche in Bremen gestaltet sich schwierig. Dabei müsse man sich vergrößern, um weiter neue Materialien aufnehmen zu können. »Ein Archiv, das keine neuen Sachen mehr aufnehmen kann, ist tot«, sagt Jänicke.

Das Archiv Aktiv lebt. Zuletzt arbeitete Kalle Seng, ein Veteran der Kriegsdienstverweigerungs-Szene, seine umfangreiche Sammlung zur Totalen und Internationalen KDV in den Bestand des Archivs ein. Das Thema könnte bald wieder hochaktuell werden.

Mitarbeit: Reinhard Schwarz

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