Hartes Urteil gegen Boualem Sansal

Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien sind auf neuem Tiefpunkt angelangt

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Paris forderte von Algier vergeblich die Freilassung des aus politischen Gründen inhaftierten französisch-algerischen Schriftstellers Boualem Sansal.
Paris forderte von Algier vergeblich die Freilassung des aus politischen Gründen inhaftierten französisch-algerischen Schriftstellers Boualem Sansal.

Die Hoffnung, dass das Regime in Algier nur eine symbolische Strafe verhängen und den krebskranken Schriftsteller Boualem Sansal nach Frankreich abschieben würde, hat sich nicht erfüllt. Am Donnerstag verurteilte ihn ein Gericht zu fünf Jahren Gefängnis. Sansal wird vorgeworfen, die nationale Integrität zu gefährden, weil er Marokkos Anspruch auf das Westsahara-Gebiet unterstützt. Die Staatsanwaltschaft hatte zehn Jahre Haft gefordert.

Auf die Festnahme des gewöhnlich in Frankreich lebenden Schriftstellers bei seiner Einreise nach Algerien Mitte November hatten Präsident Emmanuel Macron und viele Persönlichkeiten in Frankreich und anderen Ländern mit heftigem Protest reagiert.

Die Beziehungen zwischen Frankreich und Algerien sind seit Jahren schwierig. Von Frankreich ist die Kolonialvergangenheit nur unzureichend aufgearbeitet worden und in Algerien werden die wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten nur zu oft pauschal der ehemaligen Kolonialmacht zur Last gelegt. Daher tragen die bilateralen Beziehungen weniger diplomatischen als innenpolitischen Charakter.

Macron hatte sich in seiner ersten Amtszeit ab 2017 sehr um Versöhnung und Verständigung mit Algerien bemüht. Er konnte zwar eine Verbesserung des Klimas erreichen, aber keine grundlegende Wende. In der zweiten Amtszeit seit 2022, in der er nicht mehr über eine Mehrheit im Parlament verfügt, konnte er nicht verhindern, dass dieses Thema von der rechten Opposition instrumentalisiert wurde.

Die Beziehungen haben sich umso mehr verschlechtert, weil es an positiven Signalen aus Algier fehlt. Das veranlasste Macron dazu, stärker auf die Karte Marokkos, des Erzfeindes und größten Widersachers Algeriens in Nordafrika, zu setzen. Dass er vor einem Jahr die marokkanischen Ansprüche auf das ehemals spanische Westsahara-Gebiet anerkannt hat, ist für die Machthaber in Algerien ein absoluter Tiefschlag. Damit steht Algerien mit seiner Unterstützung für die Polisario-Bewegung, die die Westsahara zu einem unabhängigen Staat machen will, mehr denn je auf einsamem Posten.

Einen Höhepunkt erreichte die Krise zwischen Algier und Paris Mitte März, als die algerischen Behörden die Rücknahme von 60 Algeriern verweigerten, die sich illegal in Frankreich aufhalten oder hier wegen krimineller Vergehen verurteilt sind.

Regelmäßig boykottieren afrikanische Länder und allen voran Algerien Abschiebungen durch Frankreich, indem sie keine neuen Ausweise als Ersatz für die von den Betroffenen bewusst vernichteten Dokumente ausstellen. In den bilateralen Beziehungen wird das als Druckmittel eingesetzt.

Das Thema bekommt jetzt durch die rechte Oppositionspartei der Republikaner eine neue Dimension. Ihr Spitzenpolitiker Bruno Retailleau, der in der gegenwärtigen Koalitionsregierung Innenminister ist, will sich damit offenbar im Hinblick auf die Präsidentschaftswahl 2027 profilieren.

Die Republikaner gehen dabei so weit, das Abkommen zwischen Frankreich und Algerien von 1968 infrage zu stellen. Dieses regelt das Recht auf Aufenthalt und Arbeit sowie den visafreien Reiseverkehr für Algerier in Frankreich. Dadurch sind viele Familienangehörige in Frankreich lebender ehemaliger Algerier sowie Inhaber eines Diplomatenpasses von der Visapflicht befreit.

Im Zusammenhang mit dem Fall Boualem Sansal hat Bruno Retailleau gefordert, als Gegenmaßnahme diese Visafreiheit aufzuheben. Betroffen wären etwa 800 Personen. Auf Weisung des Innenministers haben die französische Botschaft und die Konsulate in Algerien die Reisefreizügigkeit bereits durch die Forderung nach zusätzlichen Nachweisen neben dem Diplomatenpass eingeschränkt.

Einzelne Inhaber solcher Pässe wurden sogar an der Grenze abgewiesen oder aus Frankreich ausgewiesen. In einem Interview für Radio Europe 1 ging Bruno Retailleau noch weiter und erklärte: »Wenn morgen die Rechte die Macht übernimmt, werden wir selbstverständlich umgehend das Abkommen von 1968 aufkündigen.«

Doch da die Außenpolitik verfassungsgemäß Domäne des Präsidenten und Macron nach wie vor um Schadensbegrenzung bemüht ist, kommt der Scharfmacher Retailleau – hinter dem auch das rechtsextreme Rassemblement National steht – noch nicht zum Zuge. Diese Konstellation hat offensichtlich auch der algerische Präsident Abdelmadjid Tebboune erkannt. Am vergangenen Wochenende erklärte er, die einzige Autorität, die in der gegenwärtigen bilateralen Krise die Differenzen auflösen könnte, sei sein französischer Amtskollege. Bei dem sei das Problem »in guten Händen«.

Doch Tebbounes Einfluss auf die Generäle und die anderen Machthaber in Algier ist begrenzt. In der Vergangenheit hat er Macron mehr als einmal enttäuscht, wenn dieser versuchte, die Krise durch eine Verständigung auf Präsidentenebene zu lösen.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -