Generalstreik in Belgien: Erster Anlauf gegen rechte Regierung

In Belgien mobilisierten Gewerkschaften zu einem Generalstreik gegen die drohende Austeritätspolitik

In Belgien beteiligten sich am Montag viele Beschäftigte an einem Generalstreik.
In Belgien beteiligten sich am Montag viele Beschäftigte an einem Generalstreik.

»Wir wollen leben und nicht nur überleben«, sagt Célia Ponce, Gewerkschafterin der sozialistischen Gewerkschaft ABVV bei einem Streikposten für Lehrer*innen im Brüsseler Stadtteil Saint-Gilles. Wie im gesamten Land versammelten sich auch dort am Montag Beschäftigte zu einem Generalstreik, um gegen die geplante Arbeitsmarkt- und Rentenreform sowie gegen umfassende Sparmaßnahmen der neuen belgischen Regierung zu protestieren.

In Antwerpen sorgten die Streiks im zweitgrößten Hafen Europas für Ausfälle, darunter in der für das Land bedeutenden petrochemischen Industrie; am Brüsseler Flughafen ging nichts und landesweit wurde der Nah- und Fernverkehr bestreikt. Zudem legten Beschäftigte die Arbeit in Industriebetrieben sowie im privaten und öffentlichen Dienstleistungssektor nieder.

Zum 24-stündigen Ausstand hatten die beiden größten Gewerkschaften Belgiens aufgerufen: der christliche Verband ACV und seine linke Schwesterorganisation ABVV mit ihren jeweils 1,5 Millionen Mitgliedern. Zusammen repräsentieren sie knapp 60 Prozent der Beschäftigten. Die liberale Gewerkschaft ACLVB mit ihren nur 300 000 Mitgliedern hatte sich nicht beteiligt. Nach belgischem Recht sind politische Streiks erlaubt. Teilnehmen können alle, unabhängig von einer Gewerkschaftsmitgliedschaft.

»Wir haben große Solidarität erfahren, im ganzen Land haben sich Menschen beteiligt.«

Célia Ponce Sozialistische Gewerkschaft ABVV

»Wir wollen damit den Druck auf die Regierung erhöhen«, unterstreicht ACV-Gewerkschafter Hamza Belakbir bei einem Streikposten für die sozialen Dienste. Auch dort nehmen rund 40 Beschäftigte an einer Versammlung teil. Wenig später kommt eine feministische Demonstration vorbei, die sich mit den Streikenden solidarisiert. Die Stimmung ist gut, man ruft gemeinsam Parolen und zieht dann zur Nieuwstraat, wo Einzelhandelsgeschäfte blockiert werden.

»Im Einzelhandel und im sozialen Sektor arbeiten viele Frauen, die schon jetzt für niedrige Löhne arbeiten«, erklärt Gewerkschafter Belakbir. Sie treffe die unsoziale Politik der rechten Regierung besonders. Und der flämischen sozialdemokratischen Partei Vooruit, die Teil der Koalition ist? »Ja, die hat sich in den letzten Jahren weit nach rechts bewegt«, sagt er. Die Partei, die den Gewerkschaften historisch nahestand, scheint Vertrauen zu verlieren.

Die neue Regierung unter Premierminister Bart De Wever von der flämisch-nationalistischen Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie (NVA) ist seit Anfang Februar im Amt. Daneben sind an der Koalition auch die französischsprachigen Liberalen von Mouvement Réformateur (MR), die Mitte-Rechts-Partei Les Engagés (LE) sowie die flämische konservative Partei Christendemocraten en Vlaams (CD&V) beteiligt.

Im Koalitionsvertrag hatten sich die Parteien auf umfassende Einsparungen im Kultur- und Bildungsbereich geeinigt. Und während man beim Verteidigungsetat aufstocken will, sollen auch Sozialkürzungen, etwa beim Arbeitslosengeld, den belgischen Staatshaushalt entlasten. »Die Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, verlangen von allen Opferbereitschaft«, mahnen die Koalitionsparteien an.

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Belgien ist seit Jahren chronisch überschuldet. Laut Jahresbericht der Zentralbank liegt die Schuldenquote bei 105 Prozent, wobei die EU-Fiskalregeln nicht mehr als 60 Prozent erlauben. Auch das derzeitige Haushaltsdefizit liegt mit 4,6 Prozent über dem Zielwert der EU von drei Prozent. Es droht ein Defizitverfahren der Kommission. Und Zentralbanker Pierre Wunsch warnt vor einer drohenden Abwertung der Kreditwürdigkeit des Staates. »Früher lag das Augenmerk der Rating-Agenturen auf Portugal, Irland, Griechenland, Italien und Spanien«, sagt er. Nun fokussierten sie sich auf Frankreich und Belgien.

Neben den Einsparungen liege ein Schlüssel zur Sicherung »des Wohlstands und unseres Sozialmodells in der Steigerung der Produktivität«, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Unternehmen sollen durch Subventionen und Steuersenkungen zu Investitionen animiert werden. Hinzu kommen Bürokratieabbau und günstige Energiepreise, etwa indem verstärkt auf Atomkraft gesetzt wird. Das soll für Planungssicherheit für die hauptsächlich in Flandern ansässige energieintensive petrochemische Industrie sorgen.

Wie auch in Deutschland gilt der Arbeitskräftemangel als Hemmnis für die Wirtschaft. Die Beschäftigungsquote liegt derzeit zwar bei etwa 72 Prozent, ein relativ hoher Wert im historischen und europäischen Vergleich. Doch vor dem Hintergrund des demografischen Wandels müsse die Rate bis 2030 auf 80 Prozent steigen, wie Analyst*innen der belgischen Zentralbank berechnet haben.

Dies will die Regierung durch eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten, etwa bei der Sonntags- und Nachtarbeit, und mit einer Mischung aus »Zuckerbrot und Peitsche« erwirken. Arbeitsfähige dürften »nicht mehr in den Genuss von übermäßig vorteilhaften Regelungen kommen, die sie davon abhalten, einen Job aufzunehmen«, heißt es im Koalitionsvertrag.

Der Arbeitslosengeldbezug soll auf zwei Jahre beschränkt werden. Und die Differenz zwischen dem Mindestlohn, der derzeit bei 12,83 Euro liegt, und dem Arbeitslosengeld müsse auf 500 Euro steigen. Dazu sollen einerseits Steuerfreibeträge für Geringverdienende erhöht und Sozialabgaben reduziert werden. Beschäftigte, die vorzeitig in Rente gehen, erhalten Kürzungen; Boni gibt es für jene, die über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten, das auf 67 Jahre angehoben wird.

»Das ist eine unsoziale Politik, gegen die wir uns wehren«, kritisiert ABVV-Gewerkschafterin Ponce am Streikposten in Saint-Gilles. »Wir wollen zeigen, dass wir es sind, die das Land am Laufen halten.«

Anders als die Regierung behauptet sind laut Gewerkschaften vor allem fehlende Qualifikationsmöglichkeiten, unattraktive Arbeitsbedingungen, geringe Löhne und mangelnde Vereinbarkeit von Beruf und Familie wichtige Gründe dafür, dass Stellen unbesetzt blieben. Hier müsse der Staat eingreifen. Und um den Staatshaushalt zu entlasten, müssten hohe Einkommen stärker besteuert werden.

Insgesamt verlief der Streiktag ruhig. Lediglich im Hafen von Antwerpen wurde ein kleines Feuer bei einem Streikposten durch die Polizei gelöscht. Und in Verviers raste ein Pick-Up-Fahrer durch eine Gewerkschaftsversammlung. Zwei Menschen mussten im Krankenhaus behandelt werden. Über das Motiv ist bislang nichts bekannt.

Mit ihrer Mobilisierung zeigten sich die Gewerkschaften zufrieden. »Wir haben große Solidarität erfahren, im ganzen Land haben sich Menschen beteiligt«, sagt Gewerkschafterin Ponce. Laut dem Nachrichtensender VRT Nieuws meldeten rund 40 Prozent der kleinen und mittleren Unternehmen Beeinträchtigungen.

Doch die Streikbeteiligung scheint nicht hoch gewesen zu sein: Arbeitgeberverbände erklärten, dass die Beeinträchtigungen vor allem mit Ausfällen im Nah- und Fernverkehr zu tun hätten. Ausstände in den Betrieben selbst meldeten dagegen nur drei Prozent der Unternehmen, wobei die Quote im öffentlichen Dienst deutlich höher liegen dürfte. Konkrete Zahlen der Gewerkschaften gab es bis zum Redaktionsschluss nicht.

»Das war erst der Anfang«, unterstreicht ACV-Sprecher Marc Scius bei einer Großkundgebung am zentralen Brüsseler Muntplein. Dort versammelten sich zu Mittag Tausende Beschäftigte aus dem Kultursektor, denen durch die Sparpläne harte Einschnitte drohen. »In den nächsten Wochen werden wir weiter mobilisieren und streiken.«

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