Bewegung 2. Juni als Graphic Novel: Viele Fehler, keine Reue

Die Bewegung 2. Juni als Graphic Novel über Gabriele Rollnik, genannt Ella

  • Hanna Poddig
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Bewegung 2. Juni baut ein »Volksgefängnis« für Peter Lorenz von der CDU.
Die Bewegung 2. Juni baut ein »Volksgefängnis« für Peter Lorenz von der CDU.

Gabriele Rollnik war 17 als am 2. Juni 1967 in Westberlin der Student Benno Ohnesorg vom Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wurde. Dieses Ereignis wurde namensgebend für die Anfang der 70er gegründete Bewegung 2. Juni, in der Rollnik später aktiv wurde. Der Name der Gruppe sollte auch betonen, dass die Entscheidung für den bewaffneten Kampf der Stadtguerilla nicht aus heiterem Himmel gefallen war, sondern eine Reaktion auf staatliche Gewalt darstellte.

Nun ist in der Galerie der abseitigen Künste eine Graphic Novel über Gabriele Rollnik, genannt Ella, erschienen. Auf gut 200 Seiten blickt sie im Jahr 2022 auf ihr Leben und ihren Kampf zurück, festgehalten von Michael Weber als Autor und illustriert von ZAZA Uta Röttgers. Grundlage sind mehrere Gespräche mit Rollnik, die von 2022 bis 2024 geführt wurden.

Im klassischen Schietwetter Hamburgs begleiten wir Ella auf Spaziergänge durch die heutige Stadt. Der Hafen, Linksparteiplakate und McDonalds-Werbung bilden den Einstieg in ihre Gedanken zur Nato und zum Scheitern von Realsozialismus und radikaler Linker. Es sind Rückblicke auf die Vergangenheit, es geht um die Suche nach den Anfängen ihres politischen Bewusstseins, um ihre Kindheit im Ruhrgebiet, um die rebellische Aufbruchstimmung der späten 60er, den Vietnam-Krieg und die Eskalation in Nordirland.

»Also bewaffneter Kampf?«, wirft die junge Ella, die mittlerweile in Westberlin studiert, in eine Runde und erntet Widerspruch: »Versteckspielen und Banken überfallen? Nicht mein Ding«, sagt einer, »Avantgarde und so (…) Nee danke«, ein anderer. Doch es gibt Sympathien: »Ich würde Ulrike sofort verstecken, wenn sie bei mir klingelt«, sagt eine. Nach den Schüssen auf Rudi Dutschke, Petra Schelm und Georg von Rauch sei es absurd, die Gewaltdiskussion noch zu führen, denn es sei an der Zeit, sich zu wehren, ergänzt eine andere Mitstreiterin.

Ella bricht schließlich ihr Studium ab, will sich selbst den Rückweg ins bürgerliche Leben abschneiden. Ihr Umfeld reagiert mit Unverständnis, doch sie geht diesen Schritt tatsächlich. Der Untertitel des Buches, »Nichts haben, alles ändern«, unterstreicht diese Grundhaltung. »Wer zurückkann, wird nicht kämpfen«, konstatiert sie. Die Debatte, wie ernst wir es meinen bzw. ob wir hinter einer verbalradikalen Fassade ängstliche privilegierte Bürgerliche bleiben, hat, obwohl wir heute in ganz anderen weltpolitischen Zeiten leben und kämpfen, an Aktualität nichts verloren.

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Ella versteckt einen Untergetauchten bei sich, die beiden werden ein Paar, sie wird Teil der Bewegung 2. Juni, ist bei Banküberfällen dabei. Die Gruppe plant die Entführung des Berliner CDU-Spitzenkandidaten Peter Lorenz, um Gefangene freizupressen. Sie mieten eine Ladenwohnung an, bauen ein schalldichtes »Volksgefängnis« in den Keller. Der Hungerstreik-Tod des RAF-Gefangenen Holger Meins 1974 führt zur spontanen Entscheidung, stattdessen jemand anderes zu entführen, doch der Versuch scheitert, Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann wird erschossen. Das Ereignis ist einschneidend, die Reaktion der Gruppe lediglich ein Flugblatt. Ellas Urteil aus heutiger Perspektive ist deutlich: »Danach wurde die Sache nicht mehr wirklich thematisiert. Damals hieß es ›revolutionäre Disziplin‹, heute würde ich sagen: schlichte Verdrängung.«

Schließlich gelingt die Lorenz-Entführung, Anfang 1975, drei Tage vor der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus. Der Staat lässt sich darauf ein, mehrere Gefangene gegen die Freilassung der Geisel Lorenz aus Deutschland auszufliegen. Kurze Zeit später erfährt die Euphorie über diese geglückte Aktion einen harten Dämpfer, als die RAF das Personal der bundesdeutschen Botschaft in Stockholm als Geiseln nimmt – und scheitert: zwei tote RAF-Angehörige, zwei erschossene Geiseln, Festnahmen der weiteren Beteiligten. Das geschah aus Überheblichkeit und war eine völlige Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse, sind sich die Untergetauchten einig.

Der Fahndungsdruck ist enorm, nach und nach werden Mitglieder der Bewegung 2. Juni verhaftet, Mitte 1975 auch Ella. Mit drei Mitgefangenen gelingt ihr ein Ausbruch. Sie absolviert eine Guerilla-Ausbildung im Jemen, begeht erneut Banküberfälle, trifft sich mit Angehörigen der RAF, verhandelt erfolglos über eine Kooperation. Dann der »Deutsche Herbst« 1977: Buback, Ponto, Schleyer sterben durch die RAF, die Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut«, die Toten von Stammheim. Ein Einschub im Buch ordnet die Entscheidung weiterzumachen aus heutiger Sicht ein. Man hätte die offensichtliche Niederlage sehen können. »Aber bis weit in die 80er-Jahre war ich und waren wir noch nicht so weit.«

1978 wird sie in Bulgarien verhaftet und nach Westdeutschland geflogen, es folgen 14 Jahre Haft, in denen auch Ella für bessere Haftbedingungen kämpft, während die Distanz zu den Aktionen der dritten Generation der RAF draußen erheblich zunimmt. Die Zeit nach der Entlassung ist eine Herausforderung: »nach dem Knast war da erst mal Wüste«. Sie resümiert: »Ich denke, wir sind zu Recht gescheitert«, und fügt hinzu: »Fehler? Viele. Reue? Nein.«

Diese Graphic Novel überzeugt. Inhaltlich ist sie spannend; nicht zu ausufernd, dennoch mit Liebe zum Detail erzählt. Aus dem unnahbaren Mythos »bewaffneter Kampf der Stadtguerilla« werden nahbare Menschen mit Stärken, Schwächen und Leidenschaft. Und auch grafisch ist das Buch gelungen: Zeitungsseiten, Fernsehbilder, Radiozitate, Afri-Cola und der Hamburger Fischmarkt vermitteln Atmosphäre und zeitliche Einordnung. Die Lesenden sind stets nah am Geschehen. Und, fast nebenbei, vermittelt die Lektüre ein Gefühl für die kulturellen Unterschiede zwischen der Bewegung 2. Juni und der RAF.

Michael Weber/ZAZA Uta Röttgers: Ella. Nichts haben, alles ändern. Galerie der abseitigen Künste, 212 S., geb., 28 €.

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