Gerichtsurteil ermöglicht mehr Abschiebungen nach Griechenland

Kritik an Bundesverwaltungsgericht, das über den südeuropäischen Staat Eingereisten Bleiberecht verwehrt

  • Yaro Allisat
  • Lesedauer: 4 Min.
Die jüngste Entscheidung des obersten deutschen Verwaltungsgerichts dürfte dramatische Folgen für über Griechenland in die Bundesrepublik gekommene Geflüchtete haben.
Die jüngste Entscheidung des obersten deutschen Verwaltungsgerichts dürfte dramatische Folgen für über Griechenland in die Bundesrepublik gekommene Geflüchtete haben.

Arbeitsfähige junge und alleinstehende Männer mit einer Flüchtlingsanerkennung in Griechenland dürfen aus Deutschland dorthin abgeschoben werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) in Leipzig vergangenen Mittwoch in einer sogenannten Tatsachenrevision entschieden. Es wies damit die Klagen eines staatenlosen Mannes aus dem nördlichen Gazastreifen und eines Somaliers ab. (Az.: BVerwG 1 C 18.24 und 1 C 19.24)

Einwände von Unterstützern der Betroffenen wurden bei der Entscheidung nicht berücksichtigt. Sie hatten darauf verwiesen, dass ihnen Arbeits- und Obdachlosigkeit drohen, Hilfeprogramme unterfinanziert sind und die (Wieder-)Erlangung der Aufenthaltserlaubnis in Griechenland äußerst langwierig ist. Menschenrechtsanwält*innen und die Organisation Pro Asyl haben das Leipziger Urteil scharf kritisiert.

Die Entscheidung könnte dazu führen, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) mehr Abschiebungen nach Griechenland anordnet. Eigentlich hatten Gerichte seit Jahren die Lage in Griechenland weder für Asylantragsteller*innen, noch für anerkannte Geflüchtete für menschenwürdig gehalten. Das ist nun passé. Denn in den zwei verhandelten Fällen hatte der Hessische Verwaltungsgerichtshof (VGH) anders entschieden, obwohl auch er anerkannte, dass das »griechische Aufnahmesystem (...) für anerkannte international Schutzberechtigte weiterhin erhebliche Defizite« aufweist. Dagegen legten die Kläger*innen Revision ein.

Das BVerwG folgte im Wesentlichen der Einschätzung des VGH. »Zwar haben wegen bürokratischer Hürden und Wartezeiten bis zum Erhalt erforderlicher Dokumente viele Schutzberechtigte unmittelbar nach der Ankunft keinen Zugang zu staatlichen Unterstützungsleistungen, insbesondere aus dem aktuellen Überbrückungsprogramm, dem Integrationsprogramm Helios+ oder dem staatlichen Grundeinkommen«, heißt es in der Pressemitteilung des BVerwG. Sie könnten jedoch vorübergehend Notschlafstellen nutzen und Arbeit in der »Schattenwirtschaft« finden, so die bemerkenswerte Begründung. Im vergangenen Jahr hatte der 1. Leipziger Senat für Italien ein ähnliches Urteil gefällt.

Das Verfahren der Tatsachenrevision wurde zum 1. Januar 2023 mit Paragraf 78 Absatz 8 des Asylgesetzes eingeführt. Es sieht vor, dass, wenn Oberverwaltungsgerichte in ihrer Beurteilung der allgemeinen Lage in einem Zielstaat voneinander abweichen, das Bundesgericht nicht nur für den Einzelfall entscheidet, sondern eine generelle Einschätzung gibt, ob in das entsprechende Land abgeschoben werden kann.

Rechtlich wurde bei dem Leipziger Verfahren der bereits von der Berliner Ampel-Koalition unterstützte sogenannte Bett-Brot-Seife-Maßstab angelegt. Der Ausdruck ist wörtlich zu nehmen: Mehr als schlechtes Essen, ein Bett in einer Sammelunterkunft und minimale hygienische Versorgung muss nicht geboten werden, damit abgeschoben werden kann. Mutmaßlich EU-rechtlich legitimiert werden Menschen in prekärste Verhältnisse geschickt.

Über 24 000 Menschen sind nach Angaben der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl im vergangenen Jahr von Griechenland nach Deutschland weiter geflohen. Auch mit der Flüchtlingsanerkennung erwirbt man nicht das Privileg, frei in der EU den Wohnort zu wechseln oder zu arbeiten, auch wenn beispielsweise Eltern, Tanten oder andere Familienangehörige in Deutschland leben.

Die Lage in Griechenland ist laut Berichten verschiedener NGOs katastrophal. Laut Pro Asyl reichen die Gelder des staatlichen Helios+-Hilfsprogramms lediglich für die Versorgung von 1000 Personen im Jahr. Eine Unterkunft ist in dem Programm nicht enthalten, theoretisch ausgeschlossen sind jene, denen der Schutzstatus vor mehr als zwei Jahren zugesprochen wurde.

Das Bamf hat seit dem Start des griechischen Integrationsprogramms Helios+ für dorthin aus anderen EU-Ländern Zurückgeschobene Briefe im Stil eines Reiseprospekts an Personen verschickt, die über Griechenland nach Deutschland gekommen waren. Pro Asyl hatte die Maßnahme scharf kritisiert, da es bei den Betroffenen zu großer Verunsicherung führe. Sie würden in den Schreiben unter Druck gesetzt, innerhalb von sieben Tagen zu entscheiden, ob sie »freiwillig« nach Griechenland zurückkehren wollten.

Der Menschenrechtsanwalt Mathias Lehnert attestierte dem Bundesverwaltungsgericht ein »perfides Verständnis von Recht«. Es erkläre mit seinem Urteil: »Ja, der griechische Staat kann nicht für euch sorgen, dass wissen wir – aber ihr könnt Euch ja mal nach Suppenküchen umschauen, und vor allem könnt ihr illegal arbeiten; bitte verstoßt also gegen das Gesetz, dann kommt ihr schon klar.« Die Leipziger Entscheidung werde aufgrund vermehrter Abschiebungen die Lage Schutzbedürftiger in Griechenland nochmals verschärfen, erklärte Lehnert.

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