Das Verschwundene ist immer noch da
Joochen Laabs über Literaten und Literatur der DDR – und die andauernde Debatte um deren Stellenwert
ND: Herr Laabs, in Ihrem 1989 erschienenen Roman »Der Schattenfänger« behandeln Sie die Problematik des Schriftstellerdaseins in der Spätphase der DDR. Der Roman gibt einen Blick frei auf eine leicht anarchisch, geradezu poetisch anmutende Existenzweise. Ab welchem Zeitpunkt war es in der DDR möglich, als ausgeprägter Individualist zu leben und zu arbeiten?
Laabs: Es betraf jeden Menschen in der DDR, dass das Planerische, das Konzeptionelle und das Kollektivistische irgendwo an Grenzen stieß. Die einen waren bereit, sich dem mehr anzupassen, andere hatten damit größere Schwierigkeiten. Ich habe im Roman »Der Schattenfänger« eine Figur gewählt, die größere Schwierigkeiten damit hat und Wege zu finden versucht, in der Gesellschaft weiterhin zu existieren und trotzdem bei sich selbst zu sein. Dass das nicht in jeder Beziehung aufgeht, schildert der Roman. Die Ich-Figur scheitert physisch und psychisch, statt Schriftsteller wird sie zum Trinker. Sie scheitert sozial, indem sie mit ihrer Familie nicht mehr existieren kann. Und letzten Endes scheitert sie ganz praktisch daran, indem ihr Haus in Flammen aufgeht. Das weist über die private Situation hinaus ins Existenzielle. 1989 waren die Fragwürdigkeiten, Mängel und Unerträglichkeiten der DDR so offensichtlich, dass ich nicht mehr bereit war, irgendeinen ideellen Schluss, der auf einen Kompromiss hinausläuft, zu finden. Es musste das Ganze kaputtgehen.
Wo lagen für einen Unangepassten in der DDR die Grenzen des Machbaren?
Ich denke, dass das in den einzelnen Wirkungsbereichen oder gesellschaftlichen Feldern, in denen man lebte, unterschiedlich war. Was mein Dasein als Literat betraf, stellte sich im Laufe der Zeit heraus, dass der literarische Bewegungsraum größer war als etwa der journalistische. Es gab keine objektiven Grenzen. Entscheidend war, wie weit der Einzelne bereit war, sich mit der Gesellschaft anzulegen oder sie herauszufordern. Das konnte in letzter Konsequenz zur offiziellen Ächtung führen und dazu, dass einem die Existenzgrundlage in dieser Gesellschaft entzogen wurde. Es gab zahlreiche Autoren, die in den 70er Jahren in den Westen gingen, wobei die Bedrohung in den 50er und 60er Jahren, als ich anfing, ein gesellschaftlich bewusster Mensch zu werden, noch viel größer war. Da bestand die Gefahr, dass man das Schicksal von Erich Loest oder Walter Janka erlitt und auf mehrere Jahre verschwand. Die Bedrohung in den 70er und 80er Jahren bestand nicht mehr unbedingt in einer hohen Gefängnisstrafe. Die Perspektive war eher, dass man aus der DDR verschwand. Der soziale und geografische Raum stand einem nicht mehr zur Verfügung.
Worin lagen die hauptsächlichen Schwierigkeiten, mit denen die Autoren zu kämpfen hatten?
Ursächlich war es diese ideologische Doktrin, die sich in alle Bereiche auswirkte. Sie war so absolut, dass sie bei so gut wie allen Autoren immer wieder auf Widerstand stieß, bei den einen mehr, bei anderen weniger. Das führte dazu, dass sie immer wieder mal etwas gelockert und damit porös wurde, um wieder zu verhärten. Man hatte auf der einen Seite immer Personen, die einen bremsen wollten, und auf der anderen Seite gab es auch immer Leute, die diese Schwererträglichkeit empfanden und einem zu Hilfe kamen und möglicherweise sogar der größeren Einengung, die sie in ihrer beamtenähnlichen Funktion hatten, dadurch entgehen wollten, indem sie den Autor zu Courage ermunterten oder zu Aussagen lenkten, über die man überrascht war.
Würden Sie von Unberechenbarkeit sprechen?
Es bestand eine gewisse Unberechenbarkeit. Andererseits war es vom Grundsätzlichen auch berechenbar, weil man wusste, dass bestimmte Dinge fast unaussprechbar waren. Wenn man den Sozialismus grundsätzlich ablehnte oder infrage stellte, dann war klar, dass das nicht viele Chancen hatte, veröffentlicht zu werden.
Hat Sie das Ende der DDR überrascht?
Aber ja. Auch in meinem Umkreis war niemand auf ein solches Ende gefasst. Selbst Helmut Kohl sprach ja im Herbst 1989 noch von der Konföderation. Aber dass die deutsche Zweitstaatlichkeit nicht auf Dauer weitergehen konnte, das stand für mich auch außer Frage.
Als Mitglied des Schriftstellerverbandes und des P.E.N.-Zent- rums der DDR erlebten Sie das Ende dieser beiden Institutionen aus nächster Nähe. Es kam damals mehrfach zu mächtigen Auseinandersetzungen zwischen Repräsentanten aus West und Ost. Um welche Konfliktpunkte ging es?
Das Grundsätzliche ist wahrscheinlich, dass eine gewisse Entfremdung da war, die begrifflich zunächst gar nicht so genau gefasst werden konnte. Wenn etwas ins Diffuse gerät, hält man sich an die Dinge, die greifbar erscheinen. Und greifbar wurden Personen. Sehr schnell wurde die Zuarbeit zur Staatssicherheit zum Maß der Glaubwürdigkeit und der Relevanz. Also hatte der Ost-P.E.N. dafür zu sorgen, dass alle, die durch die Staatssicherheit unakzeptabel geworden waren, verschwanden. Er veränderte sein Präsidium, und das neue Präsidium, in das ich gewählt wurde, wandte sich beflissen an die Gauck-Behörde, um Staatssicherheitsunbedenklichkeitserklärungen zu erhalten. Als es zu intensiveren Verbindungen mit dem westdeutschen P.E.N. kam, wurde aus einer Richtung in sehr massiver Weise darauf gedrungen, dass es nicht um die Entfernung von ein paar Leuten gehe, sondern um die Legitimität der DDR-Schriftsteller überhaupt. Daran biss sich die Auseinandersetzung fest und führte zu einer gewissen Spaltung. Eine größere Gruppe westdeutscher Autoren schloss sich demonstrativ dem Ost-P.E.N. an, während eine andere Gruppe, hauptsächlich Autoren aus der DDR, die in den 70er und 80er Jahren in die Bundesrepublik gegangen waren, die Akzeptanz des Ost-P.E.N. demonstrativ verweigerte. Im Laufe der Zeit glättete sich das etwas. Aber ganz überwunden ist diese Spaltung nicht.
Was wurde damals möglicherweise versäumt, das negativ in die Gegenwart hineinwirkt?
Das hing nicht nur von den Literaten allein ab, sondern von der grundsätzlichen Haltung, die von einem breiten Flügel der westdeutschen Politik vertreten und von einigen damals in Ämtern befindlichen Politikern sehr deutlich ausgesprochen wurde. Es ging um die Delegitimierung der DDR. Ich hatte gedacht, es würde bei der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten eine Art Mischung eintreten, nicht eins zu eins, aber doch so, dass von der DDR einiges zumindest die Chance einer Prüfungs- oder Bewährungszeit bekäme. Dass die jahrzehntelange Konfrontation der beiden Blöcke sich so massiv in Personen festsetzen würde und es den westdeutschen Wortführern nun vor allem um den Sieg ging und darum, ihn voll auszukosten, hatte ich nicht erwartet. Diese Haltung bestand in fast allen Bereichen.
Die Kampagne, in der Christa Wolf zum Bezugspunkt aller literarischen Dinge mit ihrem »Was bleibt« wurde, erklärt sich für mich aus diesem Hintergrund. Diese Delegitimierungshaltung war tief eingefressen in westdeutsches Bewusstsein. Und die DDR lieferte durch ihren Zusammenbruch für Anhänger dieser Haltung die augenfällige Bestätigung. Das bedeutete, dass in gewisser Weise jeder Ostdeutsche sich als delegitimiert ansehen musste, sich entwertet fühlte. Daher regte sich in vielen Ostdeutschen diese Unzufriedenheit, dieser Unwille oder diese Frustration oder sogar eine gewisse Abwehrhaltung.
Seit diesen Auseinandersetzungen ist einige Zeit vergangen. Jetzt aber tauchen alle diese Anwürfe wieder auf. Wie erklären Sie sich die gerade gegenwärtig mit Vehemenz stattfindenden Versuche, das kulturelle, aber speziell das literarische Erbe der DDR auszugrenzen? Botho Kirsch sagte kürzlich, die gesamte Literatur der DDR bis zu Christoph Hein gehöre auf den Misthaufen der Geschichte.
Für mich ist diese Aussage unerklärlich. Ob das mit der Gesamtsituation zusammenhängt, dass jetzt diese wirtschaftliche oder gesellschaftliche Krise eingetreten ist? Dass man auf indirekte Weise der DDR die Schuld an diesen Zuständen in ihrem Nachwirken geben muss? Ich habe mit Menschen, die solche Standpunkte vertreten, zu wenig Umgang, um mir eine solche Haltung erklären zu können. Sie ist absurd. Außerhalb der Demokratie könnte es demnach überhaupt keine Literatur und Kunst geben. Das heißt, es hätte über all die Jahrhunderte so gut wie keine gegeben. Was mich vor allem befremdet, ist, dass solche Aussagen sofort Medien und Meinungsverbreiter finden und dann ein Fundament zu bekommen scheinen.
»Die Gesellschaft ist verschwunden. Ich aber bin sie noch längst nicht los«, heißt es an einer Stelle Ihres Romans »Späte Reise«. Tragen Sie den Kosmos DDR auch weiterhin in einer Ihr Leben bestimmenden Weise in sich?
Es wird sich nicht ändern lassen. Persönlichkeit ist Erinnerung. Der allergrößte Teil meines Lebens ist an diese Zeit und an diese Bedingungen gebunden. Die bin ich, und die stecken in mir. Ich werde mit ihnen weiter existieren. Wenn ich es mir leicht machte, dann würde ich sagen: Sie machen es mir schwer. Aber sie sind auch eine Substanz. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass vielleicht doch das eine oder andere von dem östlichen Geschichtsblock, der da vierzig Jahre lang existierte, in die gesamtdeutschen gesellschaftlichen Zustände mit hineinfiltert und sinnvolle Impulse geben kann.
Joochen Laabs wurde 1937 in Dresden geboren. Nach dem Besuch der Oberschule war er zwei Jahre lang als Straßenbahnfahrer in Cottbus tätig. Von 1956 bis 1961 studierte er an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden. Danach arbeitete er als Fachgruppenleiter in einer Forschungsstelle für Kraftverkehr und städtischen Verkehr in Dresden.
Ab 1975 lebte er in Berlin, wo er der Redaktion der Literaturzeitschrift »Temperamente« angehörte. Nachdem man ihn mit deren gesamter Redaktion als Folge des Protestes gegen die Ausweisung von Wolf Biermann aus der DDR entlassen hatte, wurde er freier Schriftsteller. Seit 1969 gehörte er dem Schriftstellerverband der DDR und seit 1985 dem P.E.N.-Zentrum der DDR an. Ab 1993 war er Generalsekretär des ostdeutschen P.E.N.-Zentrums und von 1999 bis 2001 Vizepräsident des P.E.N.-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland.
Zu seinen wichtigsten Werken der letzten Jahre gehören die Romane »Der Schattenfänger« (2000), »Späte Reise« (2006), ausgezeichnet mit dem Uwe-Johnson-Preis, und die Erzählsammlung »Verschwiegene Landschaft« (2001), alle erschienen im Steidl Verlag, Göttingen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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