Der Spaltung zum Opfer gefallen
Das doppelte Deutschland (9) – Einheit der deutschen Wissenschaft?
Die Einbindung der beiden deutschen Staaten in die beiden konträren Militärbündnisse des Ostens und Westens Mitte der 50er Jahre schien die Spaltung für lange Zeit zu besiegeln. Vieles deutete auf eine weitere Auseinanderentwicklung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR hin. Um so überraschender war dann 1957, dass die DDR mit der Gründung eines Forschungsrates und die Bundesrepublik mit der Bildung eines Wissenschaftsrates doch wieder einen ähnlichen Weg einschlugen.
Im März 1957 hatte die Staatliche Plankommission Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeiten auf dem Gebiet von Forschung und Entwicklung beschlossen. Bruno Leuschner (1910-1965) regte an, einen Beirat für naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung als Organ des Ministerrates der DDR zu bilden. Die Intention, Wissenschaftlern und Technikern stärkeren Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse einzuräumen, sollte durch eine signifikante politische Wortmeldung namhafter Wissenschaftler der Bundesrepublik einen zusätzlichen Impuls erhalten.
Göttinger Denkzettel
Am 12. April 1957 erklärten 18 Atomwissenschaftler, darunter Max Born, Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker (1912-2007) und Otto Hahn (1879-1968), in dem »Göttinger Appell«: »Für ein kleines Land wie die Bundesrepublik glauben wir, dass es sich heute noch am besten schützt und den Weltfrieden am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet.« Der Denkzettel, den sie Kanzler Konrad Adenauer (1876-1976), der taktische Atomwaffen als Weiterentwicklung der Artillerie verharmlost hatte, damit gaben, war unübersehbar. Am 3. Mai veröffentlichten 14 namhafte Kernphysiker der DDR, darunter Max Steenbeck (1904-1981), Peter-Alfons Thießen (1899-1990) und Max Volmer (1885-1965), ebenfalls einen Appell gegen Kernwaffen.
Die Führung der DDR, die sich ohnehin gegen Atomwaffen auf deutschem Boden aussprach, sah sich durch den Göttinger Appell und dessen positiven Widerhall unter DDR-Wissenschaftlern bestätigt. Am 6. Juni 1957 berschloss der DDR-Ministerrat die Bildung des Beirates für naturwissenschaftlich-technische Forschung und Entwicklung. Am 23./24. August des Jahres fand dessen Konstituierung in Berlin auf einer Tagung von Wissenschaftlern, Technikern und Ökonomen statt. Dessen 44 Mitglieder wurden vom Ministerrat berufen. Vorsitzender wurde Peter-Alfons Thießen.
In seiner Startphase befasste sich der Forschungsrat vor allem mit Fragen rund um das 1957 beschlossene Kohle-Energieprogramm und das im Folgejahr verabschiedete Chemieprogramm der DDR. Er nahm Einfluss auf die Ausbildung des wissenschaftlich-technischen Nachwuchses und dessen Einsatz in Produktionsbetrieben. Er empfahl Maßnahmen zur Beseitigung von Disproportionen in der Industrie und zur Schließung von Lücken in der Produktion, die den technischen Fortschritt hemmten. Dem Forschungsrat war ein Zentrales Amt für Forschung und Technik zugeordnet; das bisherige Zentralamt für Forschung und Technik bei der Staatlichen Plankommission wurde aufgelöst. Als Neuerung für das Hochschulwesen wurde Auftrags- und Vertragsforschung ermöglicht. 1958 gab es bereits 211 derartige Verträge, die 17 Prozent des Umfangs des Forschungsplanes des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen ausmachten.
Obwohl der Forschungsrat ein beratendes Organ der Regierung war, ließ man ihm unmittelbar nach seiner Gründung noch reichliche Freiräume. So besaß er das Mitbestimmungsrecht über Gelder, verfügte über die Verwendung von Valutamitteln zum Import von Forschungsgeräten sowie über einen besonderen Fonds für die Prämierung hervorragender Leistungen auf dem Gebiet der Forschung und Entwicklung und für vorbildliche Arbeit der Zentralen Arbeitskreise.
Die Bildung des Forschungsrates war von ähnlichen Entwicklungen in den Nachbarländern beeinflusst. Etwa zeitgleich entstand ein Komitee für Technik beim Ministerrat der Volksrepublik Polen und ein wissenschaftlich-technisches Komitee beim Ministerrat der UdSSR. Der Vergleich zeigt jedoch, dass der Forschungsrat der DDR den Wissenschaftlern zumindest in der Anfangszeit einen erheblichen größeren Spielraum ließ und sich in Struktur und Anlage eher dem damals gleichwohl in Gründung befindlichen Wissenschaftsrat der Bundesrepublik annäherte. Noch existierten viele gesamtdeutsche wissenschaftliche Gesellschaften. Auf jährlichen Fachkonferenzen trafen sich Wissenschaftler beider deutscher Staaten. Allenthalben wurde der Wille bekundet, an der »Einheit der deutschen Wissenschaft« festzuhalten und der Tendenz des Auseinanderdriftens etwas entgegenzusetzen.
Im Unterschied zum Forschungsrat der DDR rekrutierte sich der am 6. Februar 1958 gebildete bundesdeutsche Wissenschaftsrat jedoch stärker aus Repräsentanten des Bundes, der Länder und Parlamente, von Organisationen und Einrichtungen sowie sachverständigen Persönlichkeiten aus den Bereichen von Wirtschaft und Kommunalverwaltungen. Erster Präsident war Helmut Coing. 1961 legte der Wissenschaftsrat seine Empfehlungen für die Verbesserung des Hochschulsystems vor. Bis 1964 wurden 1214 neue Lehrstühle, 2710 neue Stellen des »Mittelbaus« und Diätendozenturen sowie 5320 Stellen für Oberassistenten und wissenschaftliche Assistenten eingerichtet. Ferner war die Neugründung von Universitäten gefordert worden (so geschehen dann in Bochum, Bremen und Konstanz).
Der Mößbauer-Effekt
Am 4. Oktober 1957 war der erste sowjetische Sputnik ins Weltall gestartet. Er löste im Westen einen Schock aus und versetzte den Osten in Euphorie. Wissenschaft und Forschung rückten nunmehr immer stärker ins Zentrum der Ost-West-Auseinandersetzung. Nach der zweiten Berlin-Krise und dem Mauerbau 1961 kam es auch zu weiterer Abgrenzung im Bereich der Wissenschaften. Der Bewegungsspielraum des Forschungsrates der DDR verengte sich rasch. Die wechselseitigen Einflüsse kamen dennoch nicht völlig zum Erliegen. 1966 fanden an der Humboldt-Universität die 1. Berliner Studententage statt, die bald als Studententage der FDJ an allen Hochschulen der DDR große Popularität erreichen sollten. Dass damit an eine Tradition des Verbandes Deutscher Studentenschaften der Bundesrepublik angeknüpft wurde, der bis 1963 Deutsche Studententage veranstaltet hatte, war vielen nicht bewusst.
Im Vorfeld der 3. Hochschulreform beinflusste der »Mößbauer-Effekt« das Denken namhafter Professoren der DDR. Rudolf L. Mößbauer (Jg. 1929) war 1961 am California Institute of Technology zum Physik-Professor berufen worden. Er machte sich in der ersten Hälfte der 60er Jahre einen Namen in der Hochschulreform-Diskussion in der Bundesrepublik, indem er auf die strukturellen Vorteile des amerikanischen Department-Systems hinwies und 1964 die Technische Hochschule München zur Gründung eines Physik-Departments bewegte. Die DDR, die sich 1951 bei ihrer 2. Hochschulreform noch eng an das sowjetische Hochschulmodell gehalten hatte, vermied dies in den 60er Jahren. Das war auch nicht schwierig, denn von der Sowjetunion der 60er Jahre gingen keinerlei Impulse zu einer Hochschulreform aus. Bei den strukturellen Umgestaltungen im Rahmen der 3. Hochschulreform 1968 wurde dann mit der Bildung von Sektionen an den Universitäten auch in der DDR an das Department-System angeknüpft.
In den 80er Jahren kam es im Zeichen der Entspannung zu einer kaum noch erwarteten deutsch-deutschen Wissenschaftskooperation, deren Höhepunkt das Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit vom Jahre 1987 bildete.
Wider die Vernunft
1990 warnte der Wissenschaftsrat davor, Vorzüge des Wissenschaftssystems der DDR, wie z. B. den größeren Praxisbezug und die bessere Betreuung der Studenten durch das Lehrpersonal an den ostdeutschen Universitäten und Hochschulen im Prozess der Vereinigung zu liquidieren. Zwei Jahre darauf bekannte der damalige Vorsitzende des Wissenschaftsrates Dieter Simon in einem Interview resigniert: »Diese beiden Dinge, die einfach mustergültig waren, die hätte man sich ja vorgestellt, dass man sie übernehmen könne und solle. Das ist aber nicht geschehen.« Es geschah nicht, weil sich Kanzler Helmut Kohl gegen alle Vernunft auf die einseitige Anpassung des ostdeutschen an das als paradigmatisch betrachtete westdeutsche Gesellschaftsmodell in allen Facetten festgelegt hatte. Eine Fusion der beiden Wissenschaftssysteme zu einem gesamtdeutschen neuen leistungsfähigeren System wurde ausgeschlagen, die Einheit der deutschen Wissenschaft nicht wieder hergestellt.
Der Geschichtsprofessor lehrte an der Humboldt-Universität in Berlin und hat zahlreiche Bücher über die DDR und SED veröffentlicht.
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