Die inneren Probleme wurden verdrängt
Wolfgang Hübner sprach mit Hans Modrow über Demokratieanspruch und -defizit der DDR
ND: Hans Modrow, wie haben Sie die Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 erlebt?
Ich kam im Januar 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft und habe als Schlosser in Hennigsdorf angefangen. Das war eine Empfehlung meines Lehrers in der Antifa-Schule: Wenn du zurück bist, gehe in deinen Beruf, lerne das Leben kennen, bevor du in einer politischen Funktion tätig wirst. Das hat leider nur ein halbes Jahr gedauert.
Warum leider?
Weil ich gerne wenigstens ein Jahr im Betrieb geblieben wäre. Das wäre solider gewesen. So wurde ich schnell Leiter der Abteilung Arbeiterjugend im Brandenburger FDJ-Landesvorstand. Und als FDJler war ich Teilnehmer an der großen Demonstration, am Fackelzug am 10. Oktober 1949 in Berlin Unter den Linden, wo Erich Honecker den Schwur der Jugend zur Deutschen Demokratischen Republik ablegte.
Deutsche Demokratische Republik – dieser Staatsname bedeutete einen hohen Anspruch. Welche Erwartungen haben Sie damals damit verbunden?
Ich war mit 17 Jahren überzeugt in den Krieg gezogen und nach vier Jahren Kriegsgefangenschaft zurückgekommen mit der Überzeugung, dass ein neues Deutschland nötig ist, wenn es nicht wieder Krieg geben soll. Das war zunächst das Hauptempfinden meiner Generation, die ja verheizt werden sollte. Wir wollten ein Deutschland, das wieder in der Welt geachtet wird, und daran wollte ich mitarbeiten. Demokratisch oder sozialistisch, darüber habe ich im Oktober 1949 nicht nachgedacht. Dieser 10. Oktober mit unserer Demonstration abends war ein Schritt in ein neues Leben.
Wie ist der Anspruch der Demokratie, also im Wortsinne der Volksherrschaft, in den ersten Jahren der DDR verwirklicht worden? In der Verfassung von 1949 stand der Satz: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.
Für mich als Abgeordneten – anfangs im mecklenburgischen Landtag, dann in der Volkskammer – war Demokratie nicht zuerst eine theoretische Angelegenheit. Sondern ein Raum, um praktisch etwas für die Interessen der Jugend zu tun. Ab 1952 kam der Begriff der sozialistischen Demokratie; das war damals noch keine Streitfrage in dem Sinne, ob sie gewährt wird oder nicht. Unser Empfinden war: Wir sind in einem demokratischen Aufbau. Wenn man in Dörfern, wo noch die Petroleumlampen brannten, mit organisierte, dass Strom in die Häuser kommt, wenn man dabei war, wie das Licht angeschaltet wurde – das gehörte für mich zum Erleben von Demokratie.
Am 7. Oktober 1949 hieß es auf der Titelseite des ND, das Ziel sei die Schaffung eines souveränen, unabhängigen, selbstständigen deutschen Staates. Wie unabhängig, souverän und selbstbestimmt war diese DDR?
Ein erster Schritt war, dass die sowjetische Militäradministration einen nicht geringen Teil ihrer Rechte auf die neue Regierung übertrug. Natürlich blieb die Sowjetunion Siegermacht mit ihren Einflussmöglichkeiten. Die DDR hatte eine eingeschränkte Souveränität, ganz eindeutig. Wie die Bundesrepublik auch.
In den 50er, stärker noch in den 60er Jahren setzte die SED ihre führende Rolle durch – bis hin zur Festschreibung in der Verfassung 1968.
Um 1950 habe ich den Demokratischen Block der fünf Parteien als eine sehr streitbare Zusammenkunft erlebt.
Zeitungsberichte von damals vermitteln den Eindruck von Gleichberechtigung, obwohl man das Ulbricht-Zitat von 1945 kennt: Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.
Ich habe noch Persönlichkeiten wie Otto Nuschke von der CDU kennen gelernt. Das waren keine Leute, die sich über den Löffel balbieren ließen. Aber im Übergang zu den 60er Jahren rückten neue Personen an die Spitze der Parteien, da hat sich manches verändert. Manfred Gerlach in der LDPD, Gerald Götting in der CDU – die hatten ein Stück FDJ-Geschichte zusammen mit Erich Honecker erlebt. Da gab es einen anderen Umgang miteinander. Ich möchte nicht sagen Kumpanei, aber neben der gegenseitigen Abstimmung der Parteien entstanden neue Spielregeln, über die sich die Führungsrolle der SED durchsetzte.
Im Rückblick – war das System von vornherein so angelegt?
Wenn man es im Rückblick nur so wertet, vergisst man eine Besonderheit der DDR. Es gab kein zweites osteuropäisches sozialistisches Land mit einem solchen Parteiensystem. Dass es bei uns anders war, hatte mit zwei Momenten zu tun: mit der Geschichte der Weimarer Republik, die bis in die erste DDR-Verfassung reichte, und der Klugheit der sowjetischen Militäradministration. Die ging davon aus, dass die politische Landschaft in allen Besatzungszonen zunächst eine Ähnlichkeit besitzen sollte. Auch in den westlichen Besatzungszonen gab es SPD, KPD, die Liberalen, die CDU. Man hatte ja damals noch den gesamtdeutschen Rahmen vor Augen.
Trotzdem musste doch die Sowjetunion ein großes Interesse daran haben, dass die SED im Osten den Haupteinfluss hat.
Gewiss hatte sie ein Interesse daran. Aber es saßen auch kluge Leute in der sowjetischen Militäradministration, die um Gleichgewichte gerungen haben und die manchmal mit ihrer Politik nicht die Zustimmung in Moskau fanden. Aber sie waren dem Leben in Deutschland näher und wussten, dass man ganz ohne Beachtung des Westens keine Politik machen konnte.
Sie haben Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in der Abteilung Agitation im Zentralkomitee der SED gearbeitet. In der DDR-Verfassung von 1949 steht der schöne Satz: Eine Pressezensur findet nicht statt. In der Verfassung von 1968 heißt es, die Meinungsfreiheit sei gemäß den Grundsätzen der Verfassung gewährleistet, ebenso die Freiheit von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Wie hat sich davon ausgehend die enorme ideologische Bevormundung und Steuerung entwickelt?
Wie in anderen Bereichen gab es auch in der Medienpolitik wellenförmige Entwicklungen. Wir wollten nach dem 8. Parteitag 1971 neue Möglichkeiten für die journalistische Arbeit schaffen, im Sinne höherer Qualität und einer größeren Leserschaft, Zuschauerschaft, Zuhörerschaft. Denn wir standen ja in einer Auseinandersetzung mit den Medien der Bundesrepublik Deutschland. Damals entstanden im Fernsehen die Unterhaltungssendung »Ein Kessel Buntes«, ein Kulturmagazin und anderes. Gleichzeitig gab es eine Steuerung der Medien; jede Woche nach den Politbüro-Sitzungen kamen die Chefs der wichtigsten Redaktionen bei uns zusammen. Das hatte den Charakter der Hintergrundinformation und Orientierung durch Minister und andere Politiker, die auch Fragen beantworten mussten. Es war der Versuch, eine Lücke zu schließen, denn Pressekonferenzen von Politikern waren bis zum Ende der DDR sehr unüblich.
Dennoch gab es keinen freien Nachrichtenfluss. Kein Chefredakteur hatte alle Informationen zur Verfügung, um dann frei zu entscheiden, was er damit macht.
Die Nachrichtenagentur ADN war die Stelle, über die die Nachrichtengebung am stärksten beeinflusst wurde. Im Zweifelsfall haben die ADN-Diensthabenden bei uns im ZK gefragt, ob bestimmte Nachrichten freigegeben werden sollen. Die Redaktionen bekamen verschiedene ADN-Bulletins, mit denen bestimmte Sicherheitsstufen verbunden waren. Dadurch wurde gelenkt und Wissen selektiert.
Mitte der 70er Jahre gab es den KSZE-Prozess, die Schlussakte von Helsinki wurde unterzeichnet. Für die DDR bedeutete das ein großes Stück Anerkennung, aber auch die Unterschrift unter die Gültigkeit politischer Menschenrechte. Warum hat sich die DDR-Führung mit diesen Menschenrechten immer so schwer getan?
Diese Schlussakte von Helsinki war ein Kompromiss. Beide Seiten – Westen und Osten – glaubten, dass sie dabei für sich den größeren Vorteil erzielen. Egon Bahr hat einmal gesagt: Beide Seiten haben Kröten geschluckt, aber der Westen war der Überzeugung, dass die Zugeständnisse des Ostens in Sachen Menschenrechte die größere langfristige Wirkung haben würden. Die Geschichte zeigt, dass er Recht hatte. Erich Honecker hat die Schlussakte unterschrieben, aber die SED hatte keine Konzeption für den Umgang mit den Festlegungen im Korb 3.
Ich möchte noch einen anderen Fakt erwähnen. Beide deutsche Staaten sind 1973 zur selben Stunde in die UNO aufgenommen worden und keiner der beiden Staaten hat den anderen etwa vor die Tribüne der Vereinten Nationen gebracht, um über Probleme zu diskutieren. Auch nicht über das Thema Grenze mit all ihren Zwängen und tragischen Ereignissen. Beide Blöcke waren nicht interessiert, Fragen des Kalten Krieges oder der deutschen Teilung in die UNO zu tragen. Das war nach meinem Empfinden in den folgenden Jahren die Basis, von der aus die DDR-Führung die Welt betrachtet hat. Hinzu kam die schnelle internationale Anerkennung. Honecker begann seine Reisen. Die inneren Probleme wurden dabei verdrängt und sie drückten doch immer stärker, auch wegen der Vereinbarungen von Helsinki.
Wäre in der DDR etwa bei der Meinungsfreiheit mehr möglich gewesen oder hätte jede Öffnung einen Schritt zum Zusammenbruch des gesamten Systems bedeutet, wie er 1989/90 geschah?
Letzteres ist eine gewisse Übertreibung, denn es kam im DDR-System vieles zusammen. Das Problem der Menschenrechte in der DDR erfuhr ja eine ständige Zuspitzung durch die Frage der Reisens und Ausreisens. Dieses Problem hatte kein anderes sozialistisches Land in dieser Dimension, und daraus erwuchsen und verschärften sich viele Schwierigkeiten. Wir hatten beispielsweise eine breite Medienlandschaft, aber wir hatten in den Redaktionen neben Anleitung und Zensur auch das, was man als Schere im Kopf bezeichnet. In ihrem Glauben, dass ihre Überzeugungen die Gesellschaft tragen, hat die SED nicht oder zu spät den wachsenden Vertrauensverlust bemerkt. Der ist nicht erst im Herbst 1989 entstanden, das war das Ende eines Prozesses. Begonnen hat er viel zeitiger.
Mit der Wende im Herbst 1989 entstand fast über Nacht eine Atmosphäre offener politischer Debatten ohne Tabus, etwa an den Runden Tischen. Wenn man Demokratie als Volksherrschaft und Republik als öffentliche Angelegenheit wörtlich nimmt – wurde der Anspruch im Namen DDR Ende 1989, Anfang 1990 am besten erfüllt?
Ja, ich glaube sogar, das war überhaupt die demokratischste Zeit, die wir in Deutschland jemals hatten. Da gab es ein Wechselspiel zwischen der Regierung und der Opposition, zwischen der Volkskammer und dem Runden Tisch. Dazu gehört aber auch: Der Runde Tisch hätte nicht diese Wirkung gehabt, sondern wäre ein Tisch in der Ecke geblieben, wenn die Regierung nicht entschieden hätte, seine Tagungen im Fernsehen direkt zu übertragen und alle finanziellen und materiellen Voraussetzungen seiner Tätigkeit zu gewährleisten.
Sie waren damals Ministerpräsident.
In dieser Zeit kamen zu den Ministern aus den fünf so genannten etablierten DDR-Parteien noch Minister ohne Geschäftsbereich aus acht Oppositionsgruppen, die sich schon als Parteien verstanden. Diese Acht wären nie in die Regierung gegangen, wenn sie das Gefühl gehabt hätten, die Fünf wollten sie über den Tisch ziehen. Wir haben gemeinsam für die Volkskammerwahl 1990 ein Wahlgesetz ohne Fünf-Prozent-Klausel in Kraft gesetzt. Mit einer solchen Klausel, wie sie in der Bundesrepublik üblich war und ist, wären die Oppositionsgruppen nicht mit einem einzigen Mandat in die Volkskammer gekommen.
Die PDS ist nicht, wie viele wünschten, untergegangen, sondern in der Linkspartei aufgegangen. Diese hat eine Programmdebatte vor sich. Was sollte sie aus dem Umgang mit der Demokratie in DDR lernen?
Wir müssen zweierlei leisten: Erstens müssen wir uns weiter mit der Analyse des Sozialismus im 20. Jahrhundert befassen, seinen Defiziten, den Gründen für sein Scheitern. Dazu gehört die Demokratiefrage. Zweitens stehen wir heute in einer weltweiten Debatte u.a. darüber, wie es mit dem Eigentum, mit der Macht des Kapitals und der Banken weitergeht. Auch darüber, ob die gegenwärtige parlamentarische Parteiendemokratie das letzte Wort sein soll. Ich glaube nicht daran, dass man den Kapitalismus mit Moral und Ethik bändigen kann. Der Staat, die Gesellschaft sind da in Verantwortung. Wie kann die Gesellschaft stärker in wichtige Entscheidungen einbezogen werden – bei dieser Frage geht es um ein zentrales Element von Demokratie.
Hans Modrow war jahrzehntelang FDJ- bzw. SED-Funktionär sowie Abgeordneter der Volkskammer. Während der Wendezeit war er Ministerpräsident der DDR. Später wurde er für die PDS in den Bundestag und ins EU-Parlament gewählt.
Wolfgang Hübner ist stellvertretender Chefredakteur des ND. Er berichtete u.a. vom Wahlkampf und der Volkskammerwahl im März 1990.
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