Das Experiment - Wagnis und Enttäuschung
»Es gibt nichts Heilsameres als eine zerstörte Illusion.«
Li Si
Die DDR war ein Experiment. Dies hat sie gemeinsam mit allen Staatsgründungen. Viele solche Experimente hat das 20. Jahrhundert gesehen, und nicht alle haben das Jahrhundert überlebt.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung vom Faschismus von den Westalliierten eingesetzten Eliten in Westdeutschland hatten auf Westanbindung, einen regulierten Kapitalismus und parlamentarische Demokratie gesetzt. In Ostdeutschland wirkten die von der Sowjetunion an die Macht gebrachten und in der SED vereinigten Kommunisten und Sozialdemokraten für Integration in das sozialistische Weltsystem, das Modell der sowjetischen Planwirtschaft und eine Volksdemokratie unter Führung einer kommunistischen Staatspartei. Die Ansätze einer eigenständigen Gestalt des Aufbaus des Sozialismus gerieten seit 1948 in die Defensive. Der Kalte Krieg ließ Dritte Wege weder in Ost noch in West zu.
Es gab gute Gründe dafür, das Experiment DDR zu wagen. Um es durchzusetzen, musste deutlich mehr Gewalt als in Westdeutschland ausgeübt werden. Politische Verfolgung Andersdenkender, Berufsverbote, Einschränkungen elementarster Freiheiten haben im Osten viel größere Gruppen erfasst als im Westen und spitzten sich zum Ende hin wieder zu. Und trotzdem: Führende kommunistische und sozialdemokratische Funktionäre, geprägt durch die Niederlage der Arbeiterbewegung 1933, wie Ulbricht, Pieck, Grotewohl, Ebert, trieben das Experiment DDR voran. Eine disziplinierte Kaderpartei sicherte es mit hohem Engagement. Viele ihrer jungen Mitglieder hatten aus den Verbrechen des Hitlerfaschismus die Schlussfolgerung gezogen, dass ein grundsätzlicher Gegenentwurf zum Kapitalismus die Bedingung für eine Welt ohne Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung sei. Wie Christa Wolf, die 1945 gerade 16 Jahre alt war, später sagen sollte: Marxismus und SED waren »für mich genau das Gegenteil von dem, was im faschistischen Deutschland geschehen war … Ich wollte genau das Gegenteil. Ich wollte auf keinen Fall mehr etwas, was dem Vergangenen ähnlich sehen könnte«. Eine bedeutende und relevante Minderheit der ostdeutschen Bevölkerung unterstützte das sozialistische Experiment, während sich viele neutral verhielten und drei Millionen die DDR zwischen 1949 bis 1989 verließen. Während aus dem Westen 550 000 zuzogen.
Jedes historische Experiment ist auf Zeit gestellt. Wenn nicht neue Generationen für sich in seiner Weiterführung eine eigene Zukunft erkennen, wenn darum nicht erfolgreich gekämpft wird, wenn es sich in den Augen großer Gruppen der Bevölkerung nicht immer wieder als legitim erweist und anderen Alternativen gegenüber überlegen, wird es abgebrochen. Dies geschah mit dem sowjetischen Staatssozialismus zwischen 1988 und 1991 auf europäischem Boden und auch in der DDR.
Dies sagt nichts über und schon gar nichts gegen die Leistungen von 40 Jahren DDR aus – wirtschaftlich, sozial, kulturell, international. Bis in die frühen 1980er Jahre hinein wurde die DDR von der Mehrheit ihrer Bürgerinnen und Bürger als lebenswerter Ort mit Zukunftsperspektive akzeptiert. Wohlstand, Sicherheit und Frieden schienen im Innern garantiert. Aber die Freiheitsansprüche neuer Generationen, die ökologische Frage, globale Gefährdungen und der wachsende technologisch-ökonomische Rückstand gegenüber der Bundesrepublik stellten das Erreichte in Frage. Welche Antwort konnte darauf gefunden werden?
Die Ursache dafür, dass das Experiment DDR nicht fortgesetzt werden konnte, waren die Strukturen des sowjetischen Sozialismus. Der Versuch, die grundlegenden Defizite zu überwinden, sprengte unvermeidlich das System. Drei Beispiele dazu: (1) Schon in den 1960er Jahren waren wirtschaftliche Reformansätze und zentralistische Planwirtschaft in einen unlösbaren Konflikt geraten. Die VR China ging seit 1978 dazu über, eine Mehrsektorenwirtschaft mit einem global sich öffnenden kapitalistischen Unternehmensbereich aufzubauen. (2) Da der Führungsanspruch der SED »wissenschaftlich« gerechtfertigt wurde, war öffentliches Andersdenken unter Strafe gestellt. Die Führung der KPdSU unter Michail Gorbatschow entwickelte eine Politik von Glasnost, die bald alle Säulen des Marxismus-Leninismus zum Einsturz brachte. (3) Verbot der Bildung unabhängiger politischer Organisationen und umfassende Kontrolle über die Kader machten politische Erneuerung unmöglich. Die polnische Gewerkschaft Solidarnosc erkämpfte dagegen ihre Anerkennung und saß seit 1988 mit der Staatspartei Polens, der PVAP, am Runden Tisch. Sie erzwang 1989 halbfreie Wahlen, bei denen sie die überwältigende Mehrheit der Stimmen erhielt. Jeder radikale Versuch der Öffnung zerstörte institutionelle Grundlagen des Systems.
Der Sozialismus war historisch entstanden mit dem Anspruch, die Freiheitsfortschritte der bürgerlich-kapitalistischen Moderne zu verallgemeinern und auch den Mitgliedern der unteren sozialen Gruppen zugänglich zu machen. Eine klassenlose Gesellschaft der Freien und Gleichen sollte entstehen. Das Experiment DDR als Teil des sowjetischen Experiments scheiterte, weil die Strukturen, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte – Zentralverwaltungswirtschaft, Diktatur einer Staatspartei, Herrschaft einer Ideologie – sich nicht als Durchgangsstufe auf dem Weg zu höherer gleicher Freiheit erwiesen, sondern als Sackgasse eines Weniger an Freiheit.
Die zivilisatorische Katastrophe des Ersten und mehr noch des Zweiten Weltkriegs hatten auf das völlige Gegenteil zum Kapitalismus verwiesen. Aber es zeigte sich: Die Zentralverwaltungswirtschaft ist zwar das genaue Gegenteil eines entfesselten Kapitalismus, aber dem regulierten Kapitalismus nicht überlegen. Die Diktatur einer Staatspartei steht im Gegensatz zur parlamentarischen Demokratie, aber sie war schlechter. Den Faschisten hätte nicht die Freiheit gegeben werden dürfen, 1933 die Macht an sich zu reißen. Aber deshalb kann nicht die Freiheit des Andersdenkens verboten werden, soll Erneuerung nicht blockiert werden. Das bloße Gegenteil von schlecht hat sich nicht als hinreichend gut erwiesen.
Neue Generationen wollten 1989 das Experiment DDR nicht fortsetzen. Der Sozialismus aber als eine höhere Ordnung der Freien und Gleichen ist damit nicht von der Tagesordnung der Weltgeschichte. Neue Experimente auf dem Weg dahin werden jedoch offen sein müssen für immer neue Aufbrüche – wirtschaftlich, sozial, ökologisch, politisch und geistig.
Prof. Michael Brie ist Direktor des Instituts für Gesell-schaftsanalyse der Rosa-Luxemburg- Stiftung.
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