Der mit dem Ball tanzt

Andrej Arschawin ist der Star der neuen emporstrebenden Sbornaja

  • Ronny Blaschke, Moskau
  • Lesedauer: 4 Min.

Auf den Plakaten an den Autobahnen und in der Metro von Moskau vermittelt Andrej Arschawin den Eindruck, als wäre er gegen seinen Willen in einen dunklen Anzug gesteckt worden, als hätte ihm jemand im Vorbeigehen eine Krawatte um den Hals geschnürt. Wie ein Spätpubertierender sieht er aus, auf dem Weg zum Abiball, vielleicht zur Kirche. Ein Ablenkungsmanöver, das seine Landsleute lustig finden: Arschawin wirkt äußerlich schüchtern, kann aber auf dem Fußballplatz jeden Gegner in den Wahnsinn dribbeln. Ob die deutsche Nationalmannschaft darauf hineinfällt?

Wie kein Zweiter symbolisiert der 28-jährige Arschawin den Aufbruch des russischen Fußballs. Während der EM im vergangenen Jahr führte er die Sbornaja überraschend ins Halbfinale. Dabei war er wegen einer Roten Karte im letzten Qualifikationsspiel für zwei Spiele gesperrt gewesen. Arschawin betrat die Bühne mit Verspätung und stieg zum Hauptdarsteller einer Werbewoche auf, die erahnen ließ, dass die russische Auswahl zu einem prägenden Team Europas werden kann. Ziel ist zunächst die WM in Südafrika. Zweimal ist die Mannschaft seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der WM-Vorrunde gescheitert, zweimal verpasste sie die Endrunde. Die Maßstäbe für den kommenden Sommer sind anders. Achtelfinale lautet die Zielvorgabe. Mindestens.

Andrej Arschawin weiß, was Aufbruch bedeutet. Er hat die Niederungen kennengelernt, zum Beispiel das 1:7 im Oktober 2004 in der WM-Qualifikation gegen Portugal, und er kennt das Gegenteil. Seit seiner Kindheit hatte er für Zenit St. Petersburg gespielt, 2008 führte er seinen Heimatverein zum Gewinn des UEFA-Pokals. Im vergangenen Februar verließ er quasi als König sein Reich, um in der englischen Premier League als Bediensteter von vorn zu beginnen.

Und siehe da, beim FC Arsenal behauptete er sich besser, als viele vermutet hatten. Ende April schoss er beim 4:4 gegen Liverpool alle Tore seiner Mannschaft. Der 1,72 Meter kleine Arschawin wuchs schnell zu einem Riesen heran. Irgendwann möchte er mit seinem Nationalteam einen Titel gewinnen, 1960 hatte die UdSSR die EM gewonnen, dreimal wurde sie Zweiter, 1966 stand sie im WM-Halbfinale. Alles lange her.

Mit Arschawin hat sich der gesamte russische Fußball geöffnet. Von den EM-Teilnehmern 2008 war nur ein Spieler im Ausland aktiv, Ivan Sajenko, damals 1. FC Nürnberg. Der niederländische Trainer Guus Hiddink, der die Russen seit 2006 betreut, forderte seine Kicker auf, es sich in der Heimat nicht zu bequem zu machen. Die Oligarchen von Zenit St. Petersburg und ZSKA Moskau können zwar Millionengagen zahlen, dauerhaft gefordert werden die Spitzenspieler jedoch selten, ein großes sportliches Gefälle prägt die Premjer-Liga.

Inzwischen steht Stürmer Roman Pawljutschenko in Tottenham unter Vertrag, Kollege Pawel Pogrebnjak sucht in Stuttgart sein Glück, der schnelle Abwehrspieler Juri Schirkow misst sich mit den Größen des FC Chelsea, Dinijar Biljaletdinow kickt in Everton. »Wir lernen jeden Tag«, sagt Andrej Arschawin. Er schwärmt oft von den Trainingsmöglichkeiten Londons und der Atmosphäre in den englischen Stadien, dabei vergisst er nie zu betonen, dass Russland seine wahre und einzige Heimat bleiben wird.

Es ist ein Anfang, nicht mehr. Während der WM 1994 waren es zwölf Russen, die ihren Horizont im Ausland erweiterten. Doch keiner von ihnen war mit einem Talent gesegnet wie Andrej Arschawin. Er läuft nicht über das Spielfeld, er gleitet, den Ball als Tanzpartner, die Gegner als Komparsen. Wenn er denn will. Es gibt Halbzeiten, da scheint sich Arschawin hinter der Eckfahne zu verstecken, um Minuten später wie eine Raubkatze aufs Tor zu stürzen. Auch deshalb gewährt Hiddink ihm Freiraum.

Arschawin füllte in St. Petersburg mehrere Rollen aus, Modedisigner, Werbefigur, Politiker, Autor, der Fußball litt darunter kaum. Im russischen Fußball hat Hiddink den eisernen Vorhang geöffnet, er setzt auf die Förderung seiner Freigeister, weniger auf den Drill eines hierarchischen Kollektivs.

Das Heimspiel gegen Deutschland am Sonnabend wird für Russland eines der wichtigsten des Jahrzehnts. Der Verband hätte das Luschniki-Stadion mehrfach füllen können. Andrej Arschawin wird eine Bühne vorfinden, für die er vor vielen Jahren mit dem Fußballspielen begonnen hat. Seine Landsleute trauen ihm zu, ein Weltstar zu werden. Davon gab es im russischen Fußball bislang nur einen: Torwartlegende Lew Jaschin.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -