Es ging drunter und drüber
Das doppelte Deutschland (10 und Schluss): Keine selbstverständliche Zweistaatlichkeit
Die Jubiläumsrückblicke vermitteln das Bild von einem quasi normalen, selbstverständlichen und »unschuldigen« Weg vom »Reich« zur Bundesrepublik, von der Zusammenbruchsgesellschaft zum kapitalistischen »Wirtschaftswunder«, von der Nazi-Diktatur zur »unbefleckten« Bonner Demokratie. Davon wich angeblich ein ostdeutscher Sonderweg bloßer Sowjetisierung und »kolonialer Neugründung« ab, wie jüngst Hans-Ulrich Wehler in seiner Meisterzählung zuspitzte. Womit natürlich die Hauptschuldigen an deutscher Teilung und Zweistaatlichkeit festgemacht sind. Doch der Weg zur Bundesrepublik war weder »normal« noch selbstverständlich noch geradlinig. Der deutsche Nachkriegsweg wies vielmehr zunächst in eine ganz andere Richtung.
Alliierter und Parteien übergreifender Konsens
Trotz Naziverbrechen und Schuld, Chaos, Katastrophe, totaler Niederlage und Besetzung eröffnete sich 1945 bei Überwindung von Faschismus und Militarismus mitsamt ihren gesellschaftlichen Grundlagen die Chance für Wiederaufbau und Schaffung eines neuen Deutschlands – weil die Mächte der Antihitlerkoalition nicht die Absicht hatten, Deutschland zu zerstückeln und das deutsche Volk zu versklaven, Gleiches mit Gleichen zu vergelten, sondern dem deutschen Volk im Rahmen und bei Mitarbeit am alliierten Deutschlandprojekt, wie es in den Potsdamer Beschlüssen fixiert worden war, die Perspektive eröffneten, in den Kreis der Vereinten Nationen aufgenommen zu werden. Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und weitere Prozesse in allen Besatzungszonen, Entnazifizierungs- und Umerziehungsmaßnahmen sowie Beschlagnahmen von Großbanken und Konzernen bezeugen, dass das gemeinsame Deutschlandprojekt von allen Seiten durchaus ernst genommen wurde – wenngleich auf verschiedene Art und Weise und mit unterschiedlicher Konsequenz. Der Bodenreform in der SBZ, die allerdings nach einem recht grobschlächtigen sowjetischen Konzept (unter Ignorierung des Moskauer Agrarprogramms der KPD) durchgeführt wurde, folgten eine Gesetzesvorlage der US-Militärregierung, die eine Obergrenze von 100 Hektar als Restgut vorsah, und die britische Kontrollkommission erhielt am 17. November 1945 die Order, »nun die großen Güter in der britischen Zone aufzuteilen« (was aber wenig später mit ernährungspolitischen Argumenten zurückgestellt wurde).
Die alliierte Machtausübung setzte entscheidende Rahmenbedingungen für einen antifaschistisch-demokratischen Neubeginn, der von einer – wie sollte es anders sein – Minderheit von Antifaschisten und Demokraten initiiert wurde. Er war, wie bekannt, aber heutzutage üblicherweise marginalisiert, stark auf tiefgreifende Veränderungen ausgerichtet – angefangen von dem Aufruf der KPD über den »Sozialismus als Tagesaufgabe« der SPD, dem »besonderen deutschen Weg zum Sozialismus« der SED bis hin zu einem »christlichen Sozialismus« in der Ost- und West-CDU. Im politisch-gesellschaftlichen Szenario dominierte zonenübergreifend antifaschistischer Konsens und Orientierungen auf Gemeinwirtschaft, Dritte Wege und eine deutsche Brückenfunktion zwischen Ost und West dominierten. Die Unterschiede lagen weniger in den gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Zielen, sondern auch hier im Grad ihrer Realisierung. So kann von einer Sowjetisierung oder einem Sonderweg der SBZ, zumindest in den ersten beiden Nachkriegsjahren, keine Rede sein.
Aus einer Vier-Mächte-Regelung der deutschen Frage und einer Friedensregelung im Umfeld der Moskauer Konferenz 1947 wäre ein einheitliches Deutschland, weitgehend oder vollständig in den in Potsdam abgesteckten Grenzen, hervorgegangen, mit einem entmilitarisierten und neutralisierten Status, unter Kontrolle, aber schon bald ohne Besatzungstruppen und souverän. Das wäre eine parlamentarisch-demokratische Republik mit einem gesellschaftspolitischen Profil gewesen, in das sich die Länder der SBZ, deren Mehrsektorenwirtschaft einen »dritten Weg« verkörperte, mit ihren Verfassungen eingefügt hätten. In diesem Kontext sind auch Gespräche interessant, die seitens der SMAD von Tulpanow mit dem Vorsitzenden der LDP, Wilhelm Külz, geführt wurden. Ihn hätte die Sowjetunion gern in führender Position, vielleicht gar als Chef eines zukünftigen deutschen Staates gesehen. »Er wiederholte öfter«, so Külz in seinem Tagebuch, »daß er glaube, ich sei auch für die anderen Besatzungsmächte durchaus tragbar.«
Wenn es dennoch nicht zu gesamtdeutschen Gesprächen und zu einer Willensbildung, um die vor allem die ostzonalen Repräsentanten rangen, kam, so deshalb, weil alle die, die ein solches einheitliches Deutschland nicht wollten, diese hinterrücks torpedierten. Manche hatten ohnehin schon Westzonenstaat und Westintegration mit einem anderen gesellschaftspolitischen Profil im Visier. Denn es verhielt sich keineswegs so, wie Konrad Adenauer bekundete, dass für ihn der Weststaat nur die »zweitbeste Lösung« sei, sondern es war für ihn die beste.
Misstrauen und Lagermentalität
Obgleich sich in Washington und London zunehmend Zögerlichkeit hinsichtlich gesamtdeutscher Regelungen aufbaute, da man zu starken Einfluss von SU und SBZ befürchtete (»Kommunismus am Rhein«), hätte es doch zu einer Regelung der deutschen Frage kommen können, wenn gegenseitiges Misstrauen nicht zum Ausbruch des Kalten Krieges geführt hätte. Er zerstörte seit 1947 jäh die weltweite Nachkriegshoffnung auf dauerhafte, friedliche Kooperation. Dem von Stalin zunehmend gleich geschalteten Ostblock, dem die Bedrohung der westlichen Welt angelastet wurde, sollte ein antikommunistischer Westblock entgegengesetzt werden. Die Welt spaltete sich in zwei gegensätzliche Lager.
Doch Stalin favorisierte nach wie vor eine gesamtdeutsche Vier-Mächte-Regelung, wie er am 2. August 1948 in den »Berlin-Gesprächen« in Moskau den drei Botschaftern der Westmächte laut Protokoll erklärte: »Die drei Mächte hätten die Sowjetunion gezwungen, eine neue Währung in Umlauf zu bringen. Sie wollen die Sowjetunion zwingen, in der Ostzone eine neue Regierung zu bilden. Die Sowjetregierung möchte das nicht tun.« Mit seiner Blockade Westberlins beförderte er allerdings die Weststaatsbildung eher als dass er sie verhinderte.
Die Eskalation des Kalten Krieges beförderte die doppelte Staatsbildung und beeinträchtigte sie zugleich. In der westzonalen Gesellschaft griffen zunehmende Westorientierung verstärkt um sich. Auf eine von den Amerikanern initiierte Umfrage: »Was ist wichtiger für Sie – dass Deutschland unter allen Umständen geeint wird oder dass die Ausbreitung des Kommunismus gestoppt wird?«, entschieden sich im Juli 1948 rund zwei Drittel der im US-Besatzungsgebiet Befragten für letzteres. Deshalb nahm man die im Stile eines Verwaltungsaktes unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogene Weststaatsbildung hin. Was also als Erfolgsgeschichte gefeiert wird, war eine verordnete Demokratie, keinesfalls verwurzelt – eine »Demokratie ohne Demokraten?« (Helga Grebing). Der vom Kalten Krieg stark beeinflusste Ausgang der ersten Bundestagswahlen blockierte jede Umsetzung der von SPD und Gewerkschaften verfolgten Ziele in Richtung Gemeinwirtschaft und führte zur Wiederherstellung der kapitalistischen Wirtschafts- und Eigentumsordnung. Im Gründungsumfeld der BRD ging der Weg »vom sozialistischen Antifaschismus zum restaurativen Antisozialismus« (Hermann Glaser). Und gemäß der Forderung von Bundeskanzler Adenauer, erhoben in seiner Regierungserklärung, man wolle nun endlich einen »Schlussstrich« ziehen, wurden fortan Nazis nicht nur verstärkt integriert, sondern auch rehabilitiert.
Die Lagermentalität wirkte sich auf den Weg der SBZ anders, aber nicht weniger gravierend aus. Nach den weitgehend »von oben« bewirkten Umgestaltungen, die aber von großen Teilen an-, von anderen zumindest hingenommen worden waren, sprach alles für die Fortsetzung einer Konsenspolitik im Parteienblock, die sich trotz teils heftiger Auseinandersetzungen durchaus bewährt hatte. CDU und LDP waren für eine Fortsetzung einer Enteignungspolitik nicht zu haben, aber, wie sich zeigte, für den von der SED vorgelegten Zweijahrplan zu gewinnen. Wenn ernsthaft das Ziel Einheit Deutschlands weiter verfolgt werden sollte, dann erforderte dies einen Kurs auf Konsolidierung und demokratischen Ausbau der SBZ. Wenn der Einheitskurs nicht zum Erfolg führte und ein Oststaat gebildet werden musste, hätte dann in diesem auch der Versuch unternommen werden können, in weiterer Perspektive einen demokratischen Weg zu einem modernen Sozialismus zu sondieren und zu realisieren. Diskussionsansätze in dieser Richtung gab es in der SED-Zeitschrift »Einheit«. Doch es kam ganz anders!
Die SMAD wandte sich abrupt von den Kompromisspositionen des alliierten Deutschlandprojektes ab und zog die SBZ rigoros in die Lagerbildung des Kalten Krieges bzw. in den um die Sowjetunion herum gebildeten Ostblock und dessen Ausrichtung auf das sowjetische Modell und den Führerkult um Stalin hinein. Die SED wurde im Widerspruch zu ihrer Gründungsplattform eine »Partei neuen Typs«, orientierte sich am Leninismus stalinscher Interpretation, auf eine Entwicklung Richtung Volksdemokratie und distanzierte sich vom »besonderen deutschen Weg« als »schädliche Theorie«. Tulpanow kritisierte die »Einheit«: »Der Staat wird als Volks- und Rechtsstaat betrachtet. Die Diktatur des Proletariats wird der Demokratie entgegengestellt.« Und Walter Ulbricht blies im Mitte September 1948 zum verschärften Klassenkampf, zur »Beseitigung und Liquidierung der kapitalistischen Elemente sowohl auf dem Lande wie in den Städten«. »Diese Aufgabe ist, kurz gesagt, die des sozialistischen Aufbaus.«
Doch dann ein Schuss vor den Bug ausgerechnet aus Moskau. Stalin bremste im Dezember 1948 in den Moskauer Gesprächen mit der SED-Führung deren volksdemokratischen Forcierungsabsichten. Offenbar geschockt legte Wilhelm Pieck im Ergebnis dieser Besprechungen dar, dass der Volksrat niemals die Absicht habe, eine selbständige Regierung zu bilden, sondern vielmehr solange für Einheit und Friedensvertrag kämpfen werde, »bis dieses Ziel erreicht sein wird« (ND, 30. 12. 1948).
Gegenüber der Weststaatsbildung verlief die des Ostzonenstaates weit turbulenter. Es ging geradezu »drunter und drüber«! Das hing damit zusammen, dass keine eindeutige Handlungsperspektive vorhanden war. Gesamtdeutsche Perspektiven verquickten und überkreuzten sich ständig eigenartig mit SBZ-Perspektiven und diese wiederum änderten sich mehrfach. Von einer gezielten Vorbereitung auf die Oststaatsbildung konnte keine Rede sein.
Doch mit der am 15. September 1949 erfolgten Wahl Adenauers zum Bundeskanzler war die Separatssstaatsbildung als unumkehrbar bekräftigt worden und die Oststaatsbildung nun nicht länger hinauszuschieben. Schon am Tag danach flogen Pieck, Otto Grotewohl und Ulbricht nach Moskau, um dort Zustimmung für das Procedere zur Bildung der Deutschen Demokratischen Republik einzuholen. Nach seiner Rückkehr glaubte Pieck zunächst, die Absprachen so interpretieren zu können, dass ein (gesamt)deutscher Staat dem westdeutschen Separatstaat entgegengestellt werden sollte. Ihm wurde jedoch aus Moskau bedeutet, dass es um die Bildung eines Ostzonenstaates ging. So wurde die DDR am 7. Oktober 1949 durch die Konstituierung des Deutschen Volksrates als Provisorische Volkskammer ins Leben gerufen.
Die Zwangsgeburt, fünf nach Zwölf
Die von Stalin bis »5 Minuten nach 12« verfolgte Orientierung auf die Einheit Deutschlands hatte zur Folge, dass bei Gründung der DDR nur die zuvor als echter Parteienkompromiss ausgearbeitete gesamtdeutsche Verfassung des Deutschen Volksrates zur Verfügung stand und kein separates Oststaats-Grundgesetz. Sie schrieb die Umgestaltungen und Maßnahmen zur Beseitigung von Faschismus und Militarismus, von Elitenwechsel, Entnazifizierung und Antifaschismus, aber auch die Etablierung von Demokratie, Pluralismus und Grundrechten fest. Ein Führungsanspruch der Arbeiterklasse geschweige denn der SED verbunden mit einem Weltanschauungsmonopol waren darin nicht verankert. Das bedeutete, wenn die SED an ihrer leninistischen Orientierung festhielt, musste sie in Widerspruch zur Verfassung geraten. Das geschah bereits dadurch, dass sich das Politbüro – mit Moskauer Plazet – über die Volkskammer stellte. Es kam de facto zu einer SED-Diktatur, die in der Fortsetzung obrigkeitsstaatlicher Traditionen stand.
Die im Zugzwang geschaffene und eigentlich so nicht gewollte DDR war, obwohl von ihren Gründern enthusiastisch gefeiert, in vielem eher eine Zwangsgeburt. Die Lebensfähigkeit dieses wirtschaftlichen Torsos, verurteilt für ganz Deutschland an die Sowjetunion die Reparationen zu leisten, wurde bezweifelt. Als ein zusätzliches Handikap sollte sich die Einbindung in das niedrigere Niveau des RGW erweisen. Die Konkurrenzsituation zur wirtschaftlich stärkeren BRD war aussichtslos. Hinzu kam, dass das neu Geschaffene noch keineswegs stabilisiert und fest verankert war und von außen, aber auch von innen angefeindet wurde.
Nur, wenn man die Grund- und Ausgangsbedingungen ernst nimmt, kann die anschließende DDR-Entwicklung – hinsichtlich des Erreichten und Nichterreichten, des beim Sozialismusprojekt Gelungenem und Verfehlten, des Anzuerkennenden und zu Verurteilenden – ausgewogen dargestellt werden. Ähnlich, wie die Geschichte der BRD, die erst viele belastende Hypotheken überwinden und Veränderungen durchmachen musste, um sich als Erfolgsgeschichte ausweisen zu können.
Prof. Dr. Rolf Badstübner war an der Akademie der Wissenschaften der DDR tätig und hat zum Thema zahlreiche Bücher veröffentlicht.
An der Serie schrieben mit: Norbert Podewin, Günter Benser, Jörg Roesler, Erich Buchholz, Günter Agde, Klaus Höpcke, Klaus Huhn, Detlef Nakath, Siegfried Prokop.
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