Die Schweiz ohne Berge

»Wilhelm Tell« und der Umbruch am Theater Plauen/Zwickau

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 3 Min.
Wilhelm Tell (Shin Taniguchi)
Wilhelm Tell (Shin Taniguchi)

Zwanzig Jahre Mauerfall« steht hinter vier Premieren im Saisonheft des Theaters Plauen/Zwickau. Sie widmeten sich am Wochenende diesem Thema als einem übergreifenden Umbruch: »Das Haus. Ein Wändestück« in der Tanzsparte, die groteske Komödie »Bis Denver« von Oliver Bukowski im Puppentheater und »Dantons Tod« im Schauspiel. Zehn Jahre nach Georg Büchners Revolutionsstück schrieb Schiller »Wilhelm Tell«, sein Drama über die europäische Ur-Revolutio. Gioachinos Rossinis gleichnamige Oper war die große Herausforderung für das Musiktheater.

Der Umbruch ist in Plauen/Zwickau nicht nur Spielanlass, sondern auch Selbstbild. Alle Leitungsteams sind neu, insgesamt 48 Stellen waren neu zu besetzen; das Gesangsensemble wird gerade aufgebaut. In dieser Situation Rossinis letzte, anspruchsvollste Oper zu produzieren, hat etwas von experimentierfreudiger Tollkühnheit. Vieles glückte; je weiter der Abend voranschritt, immer besser.

Die Schweiz ohne Berge, ohne Himmel: Ausstatterin Katharina Gault hat nur einen glänzenden Boden auf der leergeräumten Bühne auslegen lassen. Tische, Stühle, Menschen mit ihren bescheidenen Utensilien sind genug. Nichts lenkt von ihren großen Wünschen und Leidenschaften ab, nichts beschützt sie voreinander.

Beide Parteien, die Schweizer und die Besatzungsmacht der Habsburger stehen einander deutlich kontrastierend gegenüber. Hier Bergbauern im Gestus der 1920er Jahre, dort Militärs im modernen Tarn-Outfit. Pittoreske Landsknechtsromantik verbot sich damit und Regisseur Alexander von Pfeil ließ auch keinen Zweifel an der Lebens-Gefährlichkeit dieser modernen Besatzungsmacht. Der alte Melchthal wird einfach so erschlagen, eine junge Braut überlebt vergewaltigt. Wie dieser Chorsängerin so gab der Regisseur auch jedem anderen aus dem »Volk« seine eigene kleine Geschichte. Eine Alte stiehlt eine Pistole, eine Obstbäuerin muckt auf, Festtagsfreuden äußern sich wie auf einem Breughel-Gemälde. Chorsänger lieben solche kleinen Spielszenen. Man hörte ihre Motiviertheit.

»Wilhelm Tell« ist ein Rossini-Sonderfall. Die belcantistisch schäumenden Koloratur-Rouladen hat der Meister hinter sich gelassen. Die großen Tableaus und eine zum tragischen Ausdruck fähige Dramatik bestimmen ein zukunftsweisendes Klangbild. Von den Solisten in den großen Partien ist Höhe, Glanz und Leichtigkeit der Technik sowie ausdrucksstarke Durchschlagskraft gefordert. Diese Tugenden vereinte vor allem Joan Ribalta als Arnold Melchthal, die zerrissenste Figur des Stücks. Mathilde, aus dem Habsburger Adel und somit zum Lager der Feinde gehörig, zieht auf der einen und die Liebe zu seinem Volk auf der anderen Seite. Vor allem stimmlich beglaubigte Riabalta sein selbstzerstörerisches Seelenleid und Mathilde, Katrin Kapplusch, beglaubigte es in Auftritt und Gesang mit Primadonnenqualitäten. Der Titelheld, Shin Taniguchi – ziemlich aufdringlich zum Schweizer geschminkt – war ebenfalls stimmlich präsent und auch Frau und Sohn Tell konnten sich auf der Bühne hören und sehen lassen. Die wichtigsten Bösewichte hielten dagegen; dem neue Operndirektor Stefan Bausch war es gelungen, die wichtigsten Partien durchaus stücktragend zu besetzen. Den besten Griff hat er jedoch mit Thomas Kalb am Pult des Orchesters getan. Es wurde klangschön, sicher und mit einem genau ausgefeilten Gestus für den Ausdruck einer jeden Szene musiziert. Besonders fein: die Echomusik ganz ohne Berge.

Nächste Vorstellungen: 16.10., Plauen; 24.10., Zwickau

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