Misslungener Exorzismus
»Der Kaufmann von Venedig« am Maxim-Gorki-Theater Berlin
Vielleicht liegt für Theater und Regisseure der Reiz, den »Kaufmann von Venedig« zu inszenieren darin, dass – neben dem »Hamlet« – kein Stück des Shakespeare-Kanons so überinterpretiert ist, wie dieses: Beim Googlen findet man 187 .000 Eintragungen ...
In Deutschland kommt hinzu das bleierne historische Gewicht des Holocaust, der massenmörderische Antisemitismus, das jeden unbefangenen Umgang mit dem Juden Shylock blockiert, obwohl das Stück zunächst einmal ja großartiges, spannendes Theater ist, insbesondere in seiner Ambivalenz zwischen Komödie, als die das Stück geführt wird, und Tragödie, die es auch ist – oder sein kann, je nachdem. An der Freien Universität Berlin gibt es ein ganzes Forschungsprojekt: »Shylock und der (neue) deutsche Geist nach 1945«, das sich im Juni mit einer Tagung »Zwischen Wiedergutmachung und Integrationsdebatte« präsentierte. Der Doyen der Shakespeare-Dramaturgie, Maik Hamburger, markierte deutlich das noch immer gültige Dilemma jeder Inszenierung: »Es ist kaum möglich, den in diesem Drama angelegten Affekten bis in ihre extremsten Ausformungen zu folgen, ohne sich dem Vorwurf des Rassismus auszusetzen, und schneidet man diese auf das Maß eines politisch verantwortbaren Konzepts zurecht, entzieht man dem Stück vieles von seiner Wirkung.«
Wer, was man eigentlich immer tun sollte, das programmatische Programmheft der Inszenierung am berliner Maxim-Gorki-Theat vorher liest, wird auf eine zwar in der Rezeptionstradition stehende, aber zugleich sie aktuell erweiternde Lesart gespannt gemacht. Es geht, so teilt die Dramaturgin Carmen Wolfram in einem klugen und nachdenkenswerten Essay über »das Spiel von Liebe, Hass und Geld« mit, um Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Kapitalismus, also um uns selbst hier und heute, nicht oder nur gewissermaßen nebensächlich, um Antisemitismus und Außenseitertum; der Jude Shylock ist nur der Katalysator zum Verständnis der Geldwirtschaft auf dem Wege in die Moderne und verkörpert ohnehin im Unterschied zu seinem Kontrahenten Antonio den kapitalistischen Fortschritt.
Vor allem aber geht es um die religiöse Dimension des Kapitalismus als Sinnstiftung der Post-Säkularisation, die unseren psychischen so gut wie unseren sprachlichen Haushalt unmerklich – aber am Text Shakespeares bereits nachlesbar – mit »Begriffen des Handels und Geldverkehrs durchsetzt« hat. Und das selbst dort, wo die »Figuren sich ihre Liebe gestehen: Liebe als Möglichkeit der Kapitalmaximierung.«
In der Inszenierung des Gorki-Theaters macht Shylock nicht nur in Krisensituationen die Kopfbewegungen des betenden orthodoxen Juden, sondern auch dazu die zeichensprachliche Handbewegung der Börsenmakler für »ich kaufe«. Nach dem Shakespeare-Text und der dazugehörigen Rezeptionsgeschichte ist die Programmatik gewissermaßen die dritte Dimension dieses komplexen Stückes.
Und damit nun zur vierten, der Inszenierung selbst. Die geht mit dem Text in der Schlegel-Übersetzung, der hier ohne allzu große Skrupel munter »dekonstruiert«, neu zusammengesetzt, gekürzt modernisiert und ergänzt wird, sehr freizügig um und ebenso freizügig mit den Figuren.
Antonio, der Kaufmann, wird ebenso wie sein Antagonist Shylock von einer Frau gespielt, was dem Stück ein gewichtiges Spannungselement entzieht, indem der Rollentausch auch einen verunklärenden Funktionstausch zur Folge hat – etwa die Homosexualität Antonios. Dessen rätselhaften Eröffnungsmonolog »Fürwahr, ich weiß nicht, was mich traurig macht« spricht Cristin König mit der vergnüglichsten guten Laune – und später wird Shylock denselben Tonfall, ergänzt durch ein Quäntchen selbstbewusst-zynischer Arroganz, aufnehmen.
Über ihn erfahren wir von Regine Zimmermann denkbar wenig. Ihr Shylock ist, ohne Emotionen zu zeigen, immer selbstbeherrscht und freundlich-kühl: mit wenigen Ausnahmen wie der mehr herausgepressten als leidensgesättigten berühmten Rede »Hat nicht ein Jude Augen ...« oder dem körpersprachlich eindrucksvollen Anfall von Epilepsie bei der Entdeckung von der Flucht der Tochter; die Regie-Zutat vom Selbstmord nach dem Richterspruch über das Pfund Fleisch kommt darum nahezu völlig unvorbereitet.
Die für eine Shakespeare-Komödie ungewöhnlich kleine Clowns-Rolle des Lanzelot Gobbo wird von der Regie großzügig aufgewertet: Peter Jordan erhält alle Freiheiten, in Sondernummern mit deutsch-italienischem Kauderwelsch komödiantisches Talent zu entfalten, der das Haus in gute Stimmung versetzt, er präsentiert sich (o Aktualität!) als Immigrant ohne gültige Papiere – nur zur Sache trägt das kaum etwas bei, ebenso wenig seine Sondernummer mit Jessica vor einem imaginierten Fernseher, die aus beiden unerwartet und für kurze Zeit eine Art Liebespaar macht. Warum? Wohl weil gezeigt werden soll, dass hier jeder und jede mit jedem und jeder nicht zuletzt dann auch homoerotisch kann.
Dass dabei am Schluss, wo bei Shakespeare mit die schönsten Verse über die Liebe gesprochen werden, dem Stück jede Poesie ausgetrieben wird, ergibt sich geradezu zwangsläufig. Wie überhaupt nahezu alle »Regie-Einfälle« aufgesetzte, aufgeputzte Nichtigkeiten sind und das Stück fast durchweg beschädigen – angefangen vom dichten Nebel, den das Publikum vor Stückbeginn erwartet und hinter dem dann die Schauspieler hervortreten und ein akustisch dargestelltes Karnevals-Feuerwerk beobachten (jeder Venedig-Kenner wird wissen, dass die berühmten Nebel dort nur im Spätherbst auftreten, nicht aber zum Karneval – macht nichts, war halt ein Regie-Einfall eines »Kaufmanns« vor Karnevals-Hintergrund, der für die Inszenierung natürlich folgenlos bleibt
Auch dass die Schauspieler ständig durchs Wasser plätschern müssen, gehört in diese Kategorie – als wüssten wir nicht, dass die Stadt aus Kanälen besteht; wir wissen aber auch, dass es da keine laut rauschenden Wellen gibt, wie uns die Geräuschkulisse glauben machen will. Wenn Jessica (Julischka Eichel), von Shylock für Tubal gehalten, zu einer nicht enden wollenden Schreikanonade ausholt, gibt es für die physische Leistung ironischen Szenenapplaus, ebenso wie für Shylocks akrobatisches Erklimmen einer überhohen Bühnenwand ...
Wozu summiert sich das Ganze? Wer Shakespeares »Kaufmann von Venedig« ernsthaft kennenlernen will, der wäre in dieser Inszenierung fehl am Platze. Von der Komplexität des Stückes, seinen Nuancen und Ambivalenzen, der Subtilität seiner Sprache und den inneren Widersprüchen seiner Menschen bleibt nicht viel mehr als ambitiöser Klamauk und Rollenkonfusionen. Wenn es Petras’ Ehrgeiz gewesen sein sollte, aus der (ost- und westdeutschen) Tradition auszubrechen, diesem Stück die überwältigende Last der Geschichte exorzistisch auszutreiben und ihm eine neue Aktualität zu geben, dann ist ihm bzw. seiner Dramaturgin das nur programmatisch, nicht aber theatralisch gelungen.
Originalitätssucht um ihrer selbst willen macht noch keine gelungene Inszenierung. Dazu bedarf es gerade in diesem Falle der größten Ernsthaftigkeit und Anstrengung – eben dessen, was das Programmheft eindringlich aber uneingelöst formuliert: »Was macht der Kapitalismus aus den Menschen? Versuche über ein anderes Leben nachzudenken, können nicht falsch sein, sondern nur zu wenige.«
Nächste Vorstellungen: am 17. und 22. November
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