Ein Hafen für Notleidende

Der »Strassenfeger« ist mehr als eine Zeitung / Eine Stiftung soll Hilfsmöglichkeiten verbessern

Zeitungsausgabe in der Jebenstraße
Zeitungsausgabe in der Jebenstraße

Die Jebenstraße ist verwaist an diesem Vormittag. Nicht einmal Autos parken hier, so dass der alte Wohnwagen alleine vor der Bahnhofsmission steht. Hier holen sich die Verkäufer des Obdachlosenmagazins »Strassenfeger« ihre Exemplare ab – für 90 Cent pro Stück, das sie für 1,50 Euro verkaufen. Die Spanne ist der Verdienst. Natürlich gibt es noch Spenden, aber unterm Strich ist das nicht mehr als ein Taschengeld. Alle halbe Stunde kommt ein Straßenverkäufer vorbei, kramt einige Münzen aus der Hosentasche und wechselt ein paar Worte mit Gerald Denkler, der die Zeitungsausgabe am Bahnhof Zoo betreut.

Thomas N. ist ein solcher Verkäufer. Beim Kaffee unterhält er sich mit Denkler übers Zeitungsverkaufen. Ein Seelenstriptease sei das, erklärt er. »Ich offenbare jeden Tag hunderten von Leuten, dass ich in der Gesellschaft gescheitert bin.« Thomas N. würde gerne sein Leben wieder in die Hand nehmen, aber ohne Suchttherapie fehle ihm die Kraft dazu, gesteht er sich ein. Der Zeitungsverkauf hilft ihm zwar, nicht ins Bodenlose zu fallen, eröffnet ihm aber keine neue Perspektive. Eine Hilfe zur Selbsthilfe ist begrenzt. Das weiß auch der Verein »Obdachlose machen mobil«, kurz mob, der den »Strassenfeger« herausgibt. »Deshalb wollen wir eine Stiftung gründen, um jenen kurz vor dem Absturz besser unter die Arme greifen zu können«, erläutert Christian Ghattas, einer der Vorsitzenden von mob.

»Das wäre ein Meilenstein«, meint Andreas Düllick, Redaktionsleiter beim »Strassenfeger«. Er hat die Entwicklung des Vereins in den letzten 15 Jahren mitverfolgt. Die Hilfsangebote sind vielfältig. An das Redaktionsbüro in der Prenzlauer Allee grenzt das Café Bankrott. Im Hof befindet sich der Trödelladen, die Notübernachtung darüber. »Rund 30 Mitarbeiter kümmern sich um den täglichen Ablauf in den Projekten«, sagt Düllick. Einige arbeiten ehrenamtlich, andere kommen für eine Mehraufwandsentschädigung (MAE) vom Jobcenter; die Küchenarbeitsplätze im Café werden über den Öffentlichen Beschäftigungssektor (ÖBS) finanziert, und einige Verurteilte leisten hier unter dem Motto »Arbeit statt Strafe« Stunden ab. Nur Düllick und eine Buchhalterin sind festangestellt.

Wer sich mit dem Redaktionsleiter unterhält, kommt auch schnell auf die Verkäufer zu sprechen. Sie sind für den Absatz der Zeitung zuständig und die Visitenkarte des Vereins. In einer Selbstverpflichtung unterschreiben sie Regeln für den Straßenverkauf. Nicht immer halten sich alle der über 350 Verkäufer daran; einige sind berauscht oder betteln eher, als dass sie Zeitungen anbieten. Andreas Düllick nimmt die gelegentlichen Beschwerden gelassen hin. »Wenn ihr Auftreten makellos wäre und sie die Passanten auch noch unterhalten könnten, dann würden sie in der Werbebranche arbeiten«, entgegnet er. So sei nun einmal das Straßenleben. Düllick will sich mit so einem Ärger nicht länger als nötig aufhalten.

Natürlich ist er froh über die Angebote, die der Verein leistet, ohne seine Unabhängigkeit aufzugeben. Aber die Grenzen der Entwicklung ohne staatliche Förderung hat er täglich vor Augen. »Es gibt Wohnungslose, die können wir nicht auffangen«, weiß auch Ghattas. Die Notübernachtung bietet ein Obdach für bis zu acht Wochen. Im Anschluss daran müsste es für einige ein betreutes Wohnen geben. »Aber wir könnten dafür im Moment keine Sozialarbeiter einstellen«, sagt Ghattas. Der Verein will einen neuen Weg einschlagen: Durch die Stiftung soll eine neue Basis für effiziente Hilfe geschaffen werden. Neben neuen finanziellen Möglichkeiten verspricht sich Ghattas davon zudem eine größere Öffentlichkeit und mehr Akzeptanz für Notleidende in der Bevölkerung.

Zurzeit laufen die Vorbereitungen zur Stiftungsgründung, die jedoch immer wieder von dringenden Aufgaben unterbrochen werden. »Im Winter müssen wir mit unseren Ressourcen haushalten und uns ganz auf die Not der Wohnungslosen konzentrieren«, sagt Ghattas. Im Berliner Umland gab es schon vereinzelt Nachtfrost. Bald wird die Kälte bis in die Stadt vordringen.

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