»Ihr werdet eure Partei nicht wiedererkennen«
Zum Godesberger Grundsatzprogramm der SPD von 1959 – Es wird wohl keine Jubelfeier zum Jubiläum geben
Der 50. Jahrestag des Godesberger Grundsatzprogramms der SPD hätte eine Jubelfeier werden sollen. Angesichts der katastrophalen Niederlage der SPD in der Bundestagswahl 2009 wird sie nun wohl eher gedämpft ausfallen. Der 15. November, der Tag, an dem das Programm beschlossen wurde, fällt in diesem Jahr zudem erneut – wie damals – auf den Volkstrauertag.
Marxismus ade
Dem Godesberger Parteitag war eine erbitterte innerparteiliche Diskussion vorausgegangen. Schon der Programmentwurf, der dem Stuttgarter Parteitag 1958 vorlag, hatte unübersehbar deutlich gemacht, dass der traditionelle marxistische Programmansatz nunmehr endgültig zu Grabe getragen werden sollte. Soweit noch vom Sozialismus die Rede war, leiteten sich die entsprechenden Vorstellungen von einem aus dem Neukantianismus entwickelten ethischen Sozialismus ab. Das neue Programm sollte die niemals behobene Spannung zwischen dem revolutionären, antikapitalistischen Anspruch der Sozialdemokratie und den politischen Bemühungen, sich in der kapitalistischen Realität einzurichten, auflösen und neue Wählerschichten für die SPD gewinnen.
Dafür wurde auf eine marxistische Analyse des Kapitalismus sowie überhaupt auf den Marxismus als Begründung für eine sozialdemokratische Programmatik verzichtet. Als Wurzeln des demokratischen Sozialismus wurden die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie bezeichnet. Ohne eine angemessene Beachtung der tiefgreifenden Strukturprobleme des Kapitalismus wurde im Programm die kühne Behauptung aufgestellt, dass »in einigen Ländern Europas … unter sozialdemokratischen Regierungen bereits die Fundamente einer neuen Gesellschaft gelegt« worden seien. (Parteitagsprotokoll, S. 29) Das Programm anerkannte das Privateigentum an den Produktionsmitteln und sprach sich für die Landesverteidigung aus. In der Debatte auf dem Parteitag wurden besonders diese beiden Festlegungen kritisiert. Von den 340 Delegierten lehnten dann aber nur 16 Delegierte das Gesamtprogramm ab.
Im konservativen Lager der BRD wurde das Godesberger Programm überwiegend wohlwollend beurteilt. Der »Rheinische Merkur« (Köln, 20.11.1959) schrieb: »Die CDU mag die Godesberger Wendung der SPD als die schönste Frucht ihres Wirkens buchen.« Solche Äußerungen wurden von der SED aufgegriffen, die ihrerseits die SPD-Führung beschuldigte, sie habe in diesem Programm »in allen entscheidenden Punkten ein offenes Bekenntnis zur Herrschaft des Monopolkapitals, zum Bonner Staat und zur westdeutschen NATO-Armee« abgelegt. (ND, Berlin, 29.11.1959) Dieses Urteil stand der innerparteilichen Kritik in der SPD gar nicht so fern. Im SPD-Bezirk Hessen-Süd äußerten sich z. B. Delegierte dahingehend, dass »der ganze Wirtschaftsteil … erstens von Keynes abgeschrieben, zweitens von der neoliberalen Schule übernommen und drittens der katholischen Soziallehre nachgeplappert« sei. (FAZ, 18.09.1959)
In Bad Godesberg sagte Peter von Oertzen: »Wollen wir das Grundsatzprogramm an den objektiven Tatbeständen, an den wirklichen sachlichen Erfordernissen ausrichten, wollen wir unnachgiebig an der alten Forderung festhalten, dass diese wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtpositionen gebrochen werden müssen, dass also die Herrschaft und der überwiegende Einfluss privilegierter Schichten gebrochen werden muss, oder wollen wir uns damit begnügen, nur das zu fordern und zu verlangen, was nun einmal, wie die Dinge liegen, in den nächsten ein, zwei, drei Jahren Aussicht hat, bei der Wahl einen guten Effekt zu erzielen? Ich glaube, es gibt hier … gar keinen anderen Weg, als den Mut zu haben, grundsätzlich richtige Feststellungen unverschleiert, in aller Klarheit und in aller Deutlichkeit in unser Programm aufzunehmen, auch wenn sie leider Gottes im Augenblick nicht populär sein sollten. Das ist ein Grundsatz, den wir aufrechterhalten müssen, wenn wir uns als sozialistische Partei nicht aufgeben wollen.«
In der Praxis jener Jahre zeigte sich indessen, dass die Befreiung der sozialdemokratischen Programmatik von Entwicklungsdeterminismen und Endzeitutopien, wie Helga Grebing das jüngst erst formulierte (»Berliner Zeitung«, 2./3./4.10.2009), den Zugang zu neuen Wählerschichten eröffnete, ohne dass die SPD quantitativ nennenswerte Kräfte durch Austritte oder Abspaltungen verlor. Der Zuspruch in der Bevölkerung manifestierte sich in der Zunahme von Wählerstimmen für die SPD, wobei sich schwer gewichten lässt, ob dies vornehmlich auf die Wende in der Programmatik der Partei zurückzuführen war oder nicht doch auf ein – in neudeutsch – politisches Projekt, das unter der Führung Willy Brandts auf »mehr Demokratie wagen«, auf eine Art Balance zwischen wirtschaftlichem Fortschritt und sozialem Ausgleich und auf einen vertraglich abgesicherten Gewaltverzicht nach außen gründete. Die SPD verstand es, auf die Veränderungen des traditionellen Klassenmilieus zu reagieren, sie nahm Anregungen aus der Studentenrevolte auf und widmete sich öffentlichkeitswirksam dem sog. Nord-Süd-Konflikt. Mit dem Erfolg der »Willy-Wahl« 1972 erreichte diese Politik ihren Höhepunkt. Die SPD erzielte 45,8 Prozent der Zweitstimmen.
Seitdem hat sich die SPD zwei weitere Grundsatzprogramme gegeben. Im Berliner Programm von 1989 wandte sie sich entschieden der Ökologie-Problematik zu. Jedoch kam dieses zur Unzeit, denn die Wende in der DDR und die Angliederung der neuen ostdeutschen Länder an die alte BRD schoben ganz andere Probleme in den Vordergrund. Das Hamburger Programm von 2007, das erste Programm, das sich die SPD als Regierungspartei gab, vertrat trotz aller Warnzeichen einen kaum gebremsten Fortschrittsoptimismus.
Jetzt, 50 Jahre nach Godesberg, hat die SPD 50 Prozent ihrer Wähler wieder verloren. Manche sprechen ihr schon den Charakter einer Volkspartei ab. In der Schröder-Ära, deren anfänglicher Erfolg noch unter der Parteiführung Lafontaines zustandegekommen war, begab sich die rot-grüne Koalition auf einen Weg, dessen neoliberale Ausrichtung sie als alternativlos ausgab. Damit untergrub sie systematisch die Motivation der Bürger, zur Wahl zu gehen. Parteimitglieder verließen die SPD in immer größerer Zahl. Die für die Sozialdemokratie traditionell im Mittelpunkt stehende Frage der sozialen Gerechtigkeit wurde mit der Verlagerung des ursprünglichen Gedankens der Gerechtigkeit von der Verteilungsgerechtigkeit zu einer voraussetzungslosen Chancengerechtigkeit deformiert und systematisch an den Rand gedrängt. Die Agenda-Politik, die Niedriglohn-Politik und das Zulassen des Wirkens eines ungezügelten Casino-Kapitalismus, dessen Finanzblasen schließlich den großen Crash auslösten, führten dann endgültig zu jener Situation, die der Bremer »Weser-Kurier« schon 1959 – damals gemünzt auf das Godesberger Programm – vorhergesagt hatte: »Die Sozialdemokraten von heute werden eines Tages ihre eigene Partei nicht mehr wiedererkennen.« (17.11.1959)
Ein Zurück gibt's nicht
Im Unterschied zu jenen Jahren, als linke Abweichler, die ausgeschlossen wurden oder die die Partei freiwillig verließen, keine parteipolitische Alternative für sich sahen, gibt es mit der Partei DIE LINKE nun eine Kraft, die in der Lage ist, nach links abwandernde Mitglieder und Wähler der SPD aufzufangen. Auf ihrem Bundesparteitag in Dresden und noch für eine lange Zeit danach wird die SPD über ihre derzeit desolate Situation nachdenken. Mit einem Zurück nach Godesberg wird es nicht gehen. Zu sehr haben der Zusammenbruch des »realsozialistischen« Systems und die Globalisierung die Welt verändert. Noch hält die SPD-Führung mehrheitlich an ihrer verfehlten Agenda-Politik fest, noch kann sich die Partei von ihrem erfolglosen Führungspersonal nicht trennen, nur äußerst schwerfällig bewegt sie sich auf eine neue, konstruktive Bündnispolitik mit der Partei DIE LINKE zu.
Wie es scheint, wird die SPD einen langen, mühsamen, mit vielen Konflikten begleiteten Weg zurücklegen müssen, um jene Menschen wieder zu erreichen, die in ihr einmal die Partei der sozialen Gerechtigkeit sahen. Immerhin hat die SPD zu keiner Zeit ihre zumindest verbale Orientierung auf einen demokratischen Sozialismus aufgegeben. Da sich auch DIE LINKE auf diesen orientiert, sollte man auf einen innovativen Wettstreit beider Parteien bei ihrer Programmsuche hoffen, der eine Perspektive für ihre dauerhafte Zusammenarbeit eröffnet.
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