Geschichten vom Fremdsein

Alexander Reiser über Russlanddeutsche in Berlin

  • Wolfgang Brauer
  • Lesedauer: 4 Min.

So sperrig und ungenau der Begriff ist, mit dem sie erfasst werden, so schwer tut sich die deutsche »Mehrheitsgesellschaft« mit ihnen, den »russlanddeutschen Spätaussiedlern«. Die Anzahl der Menschen deutscher Herkunft, die lange nach dem Ende des Krieges, hauptsächlich jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nach Deutschland kamen, beträgt inzwischen weit über zwei Millionen. Wie hoch der jeweilige Spätaussiedleranteil vor Ort ist – obwohl von den Behörden versucht wurde, den Neubundesbürgern möglichst »flächendeckend« die Wohnorte zuzuweisen, bildeten sich natürlich »Siedlungsschwerpunkte« heraus –, ist nur schwer herauszubekommen. Als »Deutsche im Sinne des Grundgesetzes« werden sie nicht separat gezählt. Schätzungen gehen davon aus, dass ihr Bevölkerungsanteil zum Beispiel in Marzahn-Hellersdorf mindestens zehn Prozent beträgt. Damit hat dieser Berliner Stadtbezirk eine weitaus höhere tatsächliche Migrantenquote, als seine offizielle Statistik ausweist. Für den »Rest« der Bevölkerung sind die Spätaussiedler ganz selbstverständlich »Russen«. Die »wirklichen« Russen in Berlin gehen aber zu den ehemaligen Russlanddeutschen meist auf Distanz.

Einer von ihnen, der Schriftsteller Alexander Reiser, hat im kleinen Geest-Verlag den Erzählungsband »Robbenjagd in Berlin« vorgelegt. Reiser, 1962 im Omsker Gebiet geboren, verdiente eine Zeit lang sein Brot in Sibirien als Pelztierjäger. 1991 kam er nach Berlin. Der Titel des Buches scheint also nahezuliegen. In 33 kürzeren Erzählungen lässt der Erzähler den Leser seine beschwerliche Odyssee auf dem Wege ins »gelobte Land« (Reiser ironisiert den Begriff) miterleben: von der Antragstellung mit all den tagtäglichen Schikanen durch eine selbstherrliche Bürokratie in Russland bis hin zu den tagtäglichen Schikanen durch eine nicht minder selbstherrliche Bürokratie in Deutschland, der die Fremdenfeindlichkeit, zumindest in Reisers Geschichten, aus allen Knopflöchern tropft. »Na, wieder mal ausgezogen, den Staat abzuzocken?«, wird der Erzähler von einer Sozialamtsmitarbeiterin begrüßt.

Nun ist das ganze Literatur, zumal mit satirischem Anspruch. Satire muss übertreiben. Ich fürchte, Reiser übertreibt nur wenig. »Bei uns im Osten ist das Arbeitsamt sowieso davon überzeugt, dass jeder Langzeitarbeitslose, ... immer noch für die Arbeit in einem Integrationsprojekt geeignet ist«, schreibt der Autor in der Erzählung »Der Schuster, der Bäcker und die Integration der Aussiedler« – und lässt an vielen Integrationsprojekten ob ihrer nachhaltigen Sinnlosigkeit kein gutes Haar. Dabei könnte doch alles so einfach sein, meint Onkel Heinrich, rüstiger Rentner und ehemaliger Viehzüchter aus der kasachischen Steppe. Den muss der Erzähler auf einen integrationspolitischen Kongress begleiten, weil Onkel Heinrich »den hohen Herren von der Politik die Augen öffnen möchte«. Er scheitert natürlich: »Ich hatte gedacht, dass wir uns, wie es sich unter Brüdern gehört, zusammensetzen und überlegen, wie wir gemeinsam das Problem lösen: Wie wir unseren Jugendlichen die Sprache beibringen und den Erwachsenen Arbeit verschaffen.« (»Onkel Heinrich und die Große Politik«)

Lustig ist das alles nur an der Oberfläche. Aus Reisers Erzählungen wird deutlich, dass die mit großem politischem Gedröhn seinerzeit willkommen geheißenen »Spätaussiedler« von der bundesdeutschen Gesellschaft vielfach als Fremdkörper, ja als unwillkommene Gäste angesehen werden. Das ist für die Betroffenen doppelt bitter. Waldemar Hermann (1951 im Ural geboren) schreibt in seinem Essay »Das Abtauchen«: »Die Deportation der Eltern, weg von ihrem ›Daheim‹, hatte auch ihn, den später Geborenen, für sein ganzes Leben zum Fremdling gemacht.«

Reisers erzählerischer Befund ist ernüchternd, für viele Russlanddeutsche ist das Gefühl des Fremdseins offenbar geblieben. Diese Geschichten, literarisch in durchaus unterschiedlicher Qualität, seien linken Lesern ans Herz gelegt. Gerade diese schwanken vielfach im Umgang mit russlanddeutschen Aussiedlern zwischen zwei Gefühlspolen: Den einen sind diese so etwas wie die stillen Botschafter (und Bewahrer!) russisch-sowjetischer Kultur, den anderen einfach ein bestenfalls zur CDU tendierender reaktionärer Haufen. Beides ist grundfalsch.

Alexander Reiser: Robbenjagd in Berlin. Humorvolle Erzählungen aus dem Leben eines Russlanddeutschen. Geest-Verlag. 189 S., geb., 10 €.

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