Der Zug ist längst abgefahren
Viele ostdeutsche Städte wurden vom Schienenverkehr abgekoppelt
Als sich vor 20 Jahren die deutsch-deutsche Grenze öffnete, machten sich fleißige Mitarbeiter von Bundesbahn und Reichsbahn in Windeseile daran, das Personenzug-Angebot an die neue Verkehrsnachfrage anzupassen. Sie richteten binnen weniger Tage neue Zugverbindungen zwischen Ost und West ein und schlossen in wenigen Monaten viele Lücken im Schienennetz.
In der ersten Euphorie gediehen ab 1990 viele neue Schienenprojekte. Etliche sind längst umgesetzt. Bei anderen jedoch gibt es nach anfänglichen Fortschritten Rückschritte. Weil die Deutsche Bahn (DB) an die Börse soll und seit Jahren einseitig auf den Hochgeschwindigkeitsverkehr zwischen Ballungsgebieten setzt, sind wichtige Städte und Regionen vom Schienenfernverkehr abgekoppelt.
Einstellung des Interregio-Verkehrs
Zu den unerfüllten Projekten zählt im Jahre 20 auch die traditionsreiche Mitte-Deutschland-Verbindung (MDV) – eine Ost-West-Bahnstrecke von Nordrhein-Westfalen über Nordhessen und Thüringen nach Sachsen. Im Bundesverkehrswegeplan von 1993 noch als »vordringlicher Bedarf« eingestuft, sollten hier im Taktverkehr Fernzüge von früh bis spät die Metropolen an Rhein und Ruhr mit Thüringen und den sächsischen Großstädten Chemnitz und Dresden verbinden.
In den 1990er Jahren rollten noch Interregio-Züge im Takt von Chemnitz nach Düsseldorf. Doch mit der schrittweisen Einstellung des Interregio-Verkehrs durch die DB ab der Jahrtausendwende war auch das Ende dieser Direktverbindungen besiegelt. Heute befahren noch mehrere Intercity-Züge täglich die Strecke vom Ruhrgebiet bis nach Weimar. Von dort aber rollen sie in nordöstlicher Richtung über Halle bis Berlin weiter.
Ein wesentliches technisches Hindernis liegt für die Bahn darin, dass die MDV auf rund 100 Kilometer Länge zwischen Weimar und dem ostthüringischen Gößnitz teilweise nur eingleisig befahrbar und nach wie vor nicht elektrifiziert ist. Das bedeutet aufwendige Verzögerungen durch Lokwechsel. Mit der parallel verlaufenden Autobahn A 4 kann dieser kurven- und steigungsreiche Streckenabschnitt in puncto Geschwindigkeit nicht konkurrieren.
Hier liegen aber Jena und Gera, nach Erfurt immerhin die beiden größten Städte des Freistaats. Doch zwischen Gera, Jena und Weimar verkehren nur noch Züge des Regionalverkehrs mit Dieselantrieb, deren Komfort nicht mit dem eines Intercity vergleichbar ist. Viele Fahrgäste klagen über chronisch überfüllte Züge.
Gera leidet darunter, als Großstadt keinen elektrifizierten Bahnanschluss zu haben. Zwar wurde der Hauptbahnhof zur Bundesgartenschau 2007 grundlegend umgebaut. Doch der gepflegte Eindruck kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die langen Bahnsteige für Züge des Fernverkehrs konzipiert und überdimensioniert sind. Früher wurde Gera noch von Fernzügen zwischen München und Berlin bedient.
In Jena, das durch seine Hochschulen eine außerordentlich junge Großstadt ist und als Wachstumszentrum zu den »Top 20 der Bundesrepublik« gehört, halten die Züge von Erfurt nach Gera am Bahnhof Jena West. Der Bahnhof Jena Paradies an der elektrifizierten Saaletalstrecke, den auch ICE-Züge von München nach Berlin bedienen, liegt weniger als einen Kilometer östlich am Saaleufer nahe der Innenstadt. Ein gemeinsamer Umsteigebahnhof in Jena bleibt allerdings auch noch im Jahr 20 ein utopischer Traum.
Protest gegen die Ausdünnung der Netze
Unmut über eine stetige Ausdünnung der IC-Verbindungen äußern auch die westdeutschen Anliegergemeinden der MDV. Seit 2006 seien zwei Drittel der Verbindungen weggefallen, beklagen hessische und westfälische Kommunalpolitiker. Werden die zum Fahrplanwechsel im Dezember 2010 drohenden weiteren Verschlechterungen wahr, so blieben auch im westlichen Teil der MDV nur noch ganz wenige Fahrtenpaare im IC-Verkehr pro Tag übrig.
Besonders hart trifft das die alte Eisenbahnerstadt Bebra, wo sich die Linien von Kassel nach Eisenach und von Göttingen nach Fulda kreuzen. Bebra war vor der Grenzöffnung und vor der Inbetriebnahme der Hochgeschwindigkeitstrasse Hannover-Würzburg stündlicher IC-Halt und Grenzbahnhof. Nun droht die faktische Abkopplung vom Fernverkehr.
Weil sie sich mit solchen Zuständen nicht abfinden wollen, versammelten die Oberbürgermeister der Anrainerstädte Kassel und Gera, Bertram Hilgen und Norbert Vornehm (beide SPD), in den letzten Wochen in ihren Rathäusern Vertreter von Politik, Wirtschaft und Bahn aus Westfalen, Hessen, Thüringen und Sachsen. In großen Abschnitten der MDV seien wegen einer ungenügend ausgebauten Infrastruktur und unterdimensionierter Fahrzeuge die Angebote im Schienenpersonennahverkehr völlig unzureichend, schlugen die Teilnehmer in Gera Alarm. Da nun auch westlich von Weimar drastische Einschnitte im Fernverkehr drohten, sei die MDV »mittel- bis langfristig zur Bedeutungslosigkeit für den Fernverkehr verurteilt«.
Die Konferenz beschloss einen umfangreichen Forderungskatalog. Dazu gehören der durchgehende zweigleisige Ausbau, die Schließung der bestehenden Elektrifizierungslücke, vertaktete Fernverkehrsverbindungen und für den Regionalverkehr mehr und moderne Fahrzeuge mit Barrierefreiheit und einem zeitgemäßen Standard. Für die Flächenerschließung sei ein verdichteter Takt mit S-Bahn-Qualität zu entwickeln, so das Geraer Papier.
Die Forderungen der Geraer Konferenz gründen sich auch auf Erkenntnisse einer Studie der Fachhochschule Erfurt. »Die Mitte-Deutschland-Verbindung verbindet in ihrem Lauf von Eisenach bis Altenburg mit Gotha, Erfurt, Weimar, Jena und Gera alle wichtigen Städte der sogenannten Thüringer Städtekette, die das wesentliche Entwicklungsband in Thüringen darstellen. Über 50 Prozent der größten Unternehmen Thüringens befinden sich entlang dieser Achse«, so das Papier. Da 40 Prozent der Thüringer Bevölkerung in einem Zehn-Kilometer-Korridor entlang dieser Verbindung lebten, sei die MDV »das eisenbahntechnische Kernstück dieser Entwicklungsachse«.
Norbert Vornehm beziffert die Ausbaukosten für die MDV auf zwischen 250 und 300 Millionen Euro. Im Vergleich zu den Kosten für Thüringens größtes Eisenbahnprojekt, die neue Hochgeschwindigkeitstrasse quer durch den Thüringer Wald, ist dies ein »Peanut«-Betrag.
Kleine Baumaßnahmen statt Megaprojekte
Diese Neubautrasse vom nordbayerischen Ebensfeld über Erfurt nach Leipzig/Halle mit ihren vielen Tunneln, Brücken, Dämmen und Einschnitten dürfte nach vorsichtigen Schätzungen mindestens acht Milliarden Euro kosten und soll ab 2017 die Reisezeit im ICE von München nach Berlin über Nürnberg und Erfurt auf unter vier Stunden senken.
Doch davon haben die Anrainer und die allermeisten Thüringer wenig. Im schlimmsten Falle wird das Geld, das in die »Thüringer-Wald-U-Bahn« fließt, jetzt für die Mitte-Deutschland-Verbindung fehlen. Unklar ist, ob und wie an der Neubaustrecke ein Haltebahnhof in Ilmenau eingerichtet und nach der Inbetriebnahme tatsächlich von Zügen angefahren wird. Als Profiteure des Projekts sieht der privatisierungskritische Verkehrswissenschaftler Heiner Monheim »die Bauwirtschaft, die sich eine goldene Nase verdient«. Monheim fordert als Alternative zu diesem Megaprojekt viele kleine Baumaßnahmen, die der Optimierung des Netzes in der Fläche dienen.
»Falsche Zielsetzungen für Bahnvorstände mit Bonusaussicht und Beteiligung am Resultat des Börsenganges verführten das Spitzenmanagement der Bahn zur Renditesteigerung zu Lasten einer nachhaltigen Entwicklung«, kritisiert auch der Geraer Bundestagsabgeordnete Ralph Lenkert (Linksfraktion): »Der Privatisierungsweg ist falsch.« Lenkert fordert ein beschäftigungswirksames Bundesinvestitionsprogramm für den Erhalt und Ausbau des bestehenden Schienennetzes und den Stopp aller Prestigeobjekte zugunsten des Ausbaus in der Fläche.
Sobald nach der Fertigstellung der »längsten U-Bahn der Welt« die ICE-Züge ab 2017 durch den Thüringer Wald brausen, ist auch für Jena und den rund 50 km südlich gelegenen Bahnknoten Saalfeld der ICE-Anschluss gefährdet. Denn dann verlöre die in den letzten Jahren für eine Milliarde Euro sanierte und für den ICE-Verkehr ausgebaute Saale-Frankenwald-Strecke ihre Bedeutung als Achse für den Personenfernverkehr zwischen Nürnberg und Berlin.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.