Die Symbolik der leeren Schachtel
Welche Bescherung wartet auf die Bulgaren nach diesem politischen Advent?
Nach siebzehnstündiger Debatte verabschiedete Bulgariens Parlament Ende vergangener Woche in zweiter Lesung den Staatshaushalt für 2010. Bei einem Umfang von etwas mehr als 17 Milliarden Lewa (8,7 Mrd. Euro) weist der Etat – wie bei der fortdauernden Wirtschaftskrise nicht anders zu erwarten – ein Defizit auf. Trotz drastischer Kürzungen in vielen Bereichen sieht der Plan aber vor, den über 2 Millionen Rentnern Bulgariens im kommenden Jahr 10 Prozent mehr zu zahlen und auch in den innenpolitisch kritischen Bereichen Gesundheit, Bildung, Ökologie und Infrastruktur nicht zu sparen.
Bei der Vorstellung seines Haushaltsentwurfes Ende Oktober hatte der neue Finanzminister Simeon Djankow, der in den USA studiert und Karriere bei der Weltbank gemacht hatte, mit typisch amerikanischem Humor den gespannt seiner Eröffnungen harrenden Presse keine Tortendiagramme, sondern Pizzaschachteln mitgebracht. Die eine Schachtel, sagte Djankow und öffnete sie, sei zwar größer, aber – leer. Sie symbolisiere die Haushaltspolitik der abgewählten Regierung, die es geschafft habe, binnen weniger Monate die großen Überschüsse, die es noch zum Jahresbeginn im Staatshaushalt gab, restlos aufzubrauchen. Die andere Schachtel sei zwar wesentlich kleiner, aber voll, wenn auch nur mit einer fleischlosen Pizza. Sie entspreche dem neuen Kurs seines Ressorts: Verteilt wird, was da ist, sowohl im Umfang als auch im Inhalt – nicht mehr und nicht weniger. Transparenz und Augenmaß seien die Leitlinien seiner und der Politik der neuen Regierung unter »Feuerwehrmann« Boiko Borissow.
Borissow hat in der Tat viel Gelegenheit, Brände zu löschen, bevor es zu spät ist. Das noch Anfang 2009 verkündete »Wirtschaftswachstum trotz Krise« von 4,7 Prozent hat sich inzwischen in ein enormes Minus von 6,3 Prozent verwandelt.
Selbst wenn man in Abzug bringt, dass sich neue Amtsinhaber stets auf Kosten ihrer Vorgänger profilieren wollen, erregen die Meldungen aus den Ministerien in der Tat mehr als Besorgnis. Zwetan Zwetanow, Vorsitzender der Borissow-Partei GERB (Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens), Vizepremier und Innenminister, vermeldete für seine Dienststelle noch bescheidene 65 Millionen Lewa (33,2 Mio. Euro) an Schulden, die seit Jahresbeginn 2009 angehäuft worden seien. Verteidigungsminister Nikolai Mladenow sagte am 2. Dezember nach einem Treffen mit Präsident Georgi Parwanow, dem Oberbefehlshaber der bulgarischen Armee, sein Amt sitze auf 100 Millionen Lewa Schulden (51 Mio. Euro), ebenfalls angehäuft in den ersten sechs Monaten dieses Jahres. Vielleicht am schlimmsten sieht es im Ministerium für Regionalentwicklung aus, das bei einem Budget von 80 Millionen Lewa bis zum Sommer bereits Aufträge für über 300 Millionen vergeben hatte.
Da in einer kleinen Volkswirtschaft wie der bulgarischen mit vergleichsweise schwachen Exportdaten der Staat als Auftraggeber für die Unternehmen im Lande eine entscheidende Rolle spielt, hat dieser Umgang mit dem Geld des Steuerzahlers eine Kettenreaktion ausgelöst. Die ohnehin kapitalschwache bulgarische Privatwirtschaft stürzte in enorme Liquiditätsprobleme. Die bulgarische Tageszeitung »Standart« fasste die Lage Ende November in einer Überschrift zusammen: »Wirtschaft handelt derzeit nach dem Motto: Wir zahlen, wenn man uns bezahlt hat.« Das Problem: Der bulgarische Fiskus will sein Geld nicht nach Zahlungseingang, sondern nach Rechnungsstellung. Zahlen die Firmen nicht gemäß Auftragsvolumen, sperrt ihnen der Steuereintreiber die Konten, was immer mehr von ihnen handlungsunfähig macht und mit Konkurs bedroht.
Am schwersten davon betroffen ist die Bauwirtschaft, in der ein altes, längst verschwunden geglaubtes Gespenst wiedergekehrt ist: Arbeiter – sofern sie nicht zu den 35 000 gehören, die allein dies Jahr entlassen wurden – erhalten ihre Löhne oft über Monate nicht, und der Erfindungsreichtum einiger Firmeninhaber, dies auch weiterhin so zu handhaben, ist beträchtlich. Die in den Jahren des Investitionsbooms unmittelbar vor und nach dem bulgarischen EU-Beitritt trotz grassierender Korruption und ineffektiver Strukturpolitik fast verschwundene Arbeitslosigkeit nähert sich nun wieder der 10-Prozent-Marke. Wer nicht arbeitslos wurde, musste sich mit erheblichen Lohnkürzungen abfinden, und dies, nachdem die Bulgaren 2008 eine Rekordinflation verkraften mussten, die ihre Lohn- und Gehaltssteigerungen auffraß.
Unabhängige Wirtschaftsexperten wie Kamen Koltschew von der Elana Finanzholding sind dennoch optimistisch: »Diese Krise ist eine Chance für uns«, verkündete Koltschew kürzlich in einem Interview, »weil sie zu Reformen zwingt, die wir über Jahre aufgeschoben haben.« Eine dieser Reformen betrifft nicht nur rigide Steuer- und Ausgabendisziplin des Staates, sondern vor allem auch die Auftragsvergabe selbst, die oft ohne Ausschreibung »unter Freunden« erfolge, so dass schlechte Leistungen zu stark überhöhten Preisen erbracht würden.
Die EU-Kommission gewährt der neuen Regierung jedenfalls so etwas wie Vorschussvertrauen: Der scheidende Erweiterungskommissar Olli Rehn hat am 18. November einen Teil der im Juli 2008 gesperrten Strukturfördermittel locker gemacht, immerhin 82,5 Millionen Euro, damit Bulgarien seine brach liegenden Infrastrukturprojekte fortführen kann. Der gute Weg, auf den Borissow sein Land zu bringen verspricht, muss jedenfalls erst noch gebaut werden. Dies aber so schnell und so solide wie möglich.
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