Einen Schlafplatz für die Nacht
Aktivisten vom »Nachtasyl Gorki« in Berlin bieten eine Gratisübernachtung für Bedürftige an
Ein Team von Freiwilligen hat am Lichtenberger Bahnhof in Berlin das »Nachtasyl Gorki« eröffnet und bietet den Obdachlosen praktische Hilfe: einen Schlafplatz für die Nacht. Dafür ernten sie zwar viel Lob, nur kosten darf das Engagement nichts. Ihr privater Einsatz wird nicht öffentlich gefördert. Das »Nachtasyl Gorki« beklagt ohnehin, dass in Zeiten klammer Haushaltslage die Ärmsten keine Fürsprecher in der Politik haben. Das wollen die Aktivisten nun ändern.
Nachts kommt manchmal noch ein später Gast und trappt die vier Holzstufen zur Rezeption empor. Hinter einem Tresen wachen die Helfer vom »Nachtasyl Gorki« über die schlafenden Obdachlosen, denen sie während der Wintermonate immer in der Nacht von Donnerstag auf Freitag eine warme Bleibe bieten. Morgens um acht Uhr bekommen sie ein Frühstück als Start in den Tag.
Abgewimmelt und verwiesen
Karsten Krampitz und Susanne Bergknecht betreiben an diesem Abend das Nachtcafé. Wenn um 17 Uhr die Tagesstätte für Bedürftige in der Weitlingstraße zumacht, beginnt ihr Dienst. Dann stellen sie die Tische beiseite, wischen den Raum und beziehen die Betten. Hunde dürfen ihre Gäste nicht mitbringen, Alkohol trinken ist verboten, Rauchen auch. Wo man schläft, da raucht man nicht. Das sind einfache Gebote der Reinlichkeit, die den Gästen im Quartier eine behagliche Nacht erlauben.
Seit November betreiben die Freiwilligen diese Unterkunft am Bahnhof in Lichtenberg. Heike Ladewig von der Sozialberatung des Tagestreffs, das der Träger MUT führt, freut sich über dieses Engagement: »Wir begrüßen alles, was unseren Klienten hilft.« In dem Haus praktizieren bereits ein Arzt und ein Zahnarzt; für die Wohnungslosen gibt es Waschgelegenheiten und eine Kleiderkammer. Im Winter sind diese Nachtcafés eine Ergänzung zu den Notunterkünften und bieten den Obdachlosen einen Schlafplatz für eine Nacht. Vernetzt sind die Einrichtungen mit der Berliner Kältehilfe. Der Anruf eines Bedürftigen genügt, um ihm eine warme Bleibe zu vermitteln. Für das Nachtcafé beantragten die Aktivisten zusammen mit dem Humanistischen Verband beim Bezirksamt eine Unterstützung von 9000 Euro. Erst am 16. Dezember, unmittelbar vor dem Wintereinbruch, beriet der Sozialausschuss in Lichtenberg über die Obdachlosenhilfe im nächsten Jahr, und das »Nachtasyl Gorki« fand dabei keine Berücksichtigung.
Dem Bezirk Lichtenberg stehen für das nächste Jahr lediglich 16 000 Euro an Landesgeldern zur Verfügung, um seinen Beitrag an der Berliner Kältehilfe leisten zu können. Diesen Betrag benötigt schon das Abendcafé in der Glaubenskirche am Roedeliusplatz. Dreimal in der Woche gewährt die Gemeinde dort zehn Menschen ein Obdach. Annegret Gabelin (LINKE), Vorsitzende des Sozialausschusses beim Bezirk, hält dieses Angebot für ausreichend. Dabei ist die Berliner Kältehilfe zu über 90 Prozent ausgelastet. Das »Nachtasyl Gorki« zu unterstützen sei zudem keine Aufgabe des Stadtbezirkes, erklärt sie, sondern Landessache.
In Berlin gibt es Schätzungen zufolge rund 10 000 Obdachlose. Das Ausmaß des Elends ist nicht immer sichtbar, denn nicht alle Wohnungslosen schlafen auf der Parkbank oder machen im öffentlichen Nahverkehr »Rutsche«, indem sie von einer Endhaltestelle zur anderen fahren. Einige kommen bei Freunden unter, andere haben dauerhaft ihr Plätzchen in irgendeiner Ecke gefunden. »Manchmal auf einem Dachboden oder in einem Keller, der nicht abgeschlossen ist«, erklärt Krampitz. Natürlich führt das zu Konflikten. Die Sozialarbeiterin Heike Ladewig hört von ihren Klienten immer wieder, dass sie aus den halböffentlichen Räumen vertrieben werden. »Die Sicherheitskräfte erlauben den Obdachlosen nicht mehr, sich in den Vorräumen der Banken aufzuwärmen.« Notleidende werden marginalisiert, abgewimmelt und verwiesen, weil sie nicht immer gepflegt sind und trinken.
Auch die meisten Gäste im »Nachtasyl Gorki« haben ein Alkoholproblem, das weiß auch Karsten Krampitz, der mit seiner langjährigen Erfahrung mit Obdachlosen ein Gespür für die Trinkgewohnheiten hat. Die Pegeltrinker seien harmlos, bei ihnen wirke der Alkohol gegen die Entzugserscheinungen. Anders aber bei den Volltrunkenen. »Die sind manchmal auf Streit aus, gerade wenn die Bude voll ist.« Deshalb wachen sie nachts nie alleine, sondern immer zu zweit.
Gemeinsam mit Susanne Bergknecht und einigen anderen hat Krampitz bereits in der Treptower Bekenntniskirche das Café »Die Arche« geführt, das sie in »Nachtcafé Landowsky« umbenannt haben. Der Christdemokrat Klaus-Rüdiger Landowsky hatte nämlich in einer Haushaltsberatung gesagt, »dass dort, wo Müll ist, auch Ratten sind und dass dort, wo Verwahrlosung herrscht, auch Gesindel ist. Das muss in der Stadt beseitigt
werden.« In der Kirchengemeinde stieß die Kritik an dem CDU-Politiker auf Widerstand. Wenn Krampitz die Geschichte erzählt, dann grinst er noch immer, und sein Blick verrät, dass er gerne provoziert. Die Gruppe verließ im vorigen Jahr die Kirche und startet jetzt mit dem »Nachtasyl Gorki« einen Neuanfang. Mit der Namensgebung greifen die Aktivisten diesmal die Sozialkritik von Maxim Gorki auf, der in seinem Drama »Nachtasyl« die Zustände in einem russischen Elendsquartier schildert, um die soziale Not anzuklagen.
Abweichend von der literarischen Vorlage ist das Nachtcafé in der Weitlingstraße kein schäbiger Kellerraum, sondern ein sanierter Altbau, und die zweckmäßige Einrichtung ist zu Weihnachten mit Tannengrün und Lichtern geschmückt. Wenn die Obdachlosenhilfe tatsächlich ausreichen würde und alles so bleiben könnte, wie Annegret Gabelin es meint, dann bräuchten die Freiwilligen nicht die kräftezehrenden Nachtdienste auf sich zu nehmen, um bis zu zwölf Wohnungslosen ein Bett anzubieten. Aber die Kältehilfe ist kein Selbstläufer, sondern lebt vom Engagement der Betreiber.
Das »Nachtasyl Gorki« ist indes nicht das einzige Projekt, das aus der öffentlichen Förderung herausfällt. Auch der Weddinger Tagestreff »Unter Druck« ist davon betroffen – dort stellt der Bezirk Mitte seine Unterstützung zum Jahresende ein. Bislang finden in den Räumen bis zu 15 Personen zweimal in der Woche einen Schlafplatz.
Die Armut wird zunehmen
Der Treff hat zwar einen Spendenaufruf gestartet. »Aber bislang ist noch nicht so viel zusammengekommen, um das Nachtcafé fortführen zu können«, erklärt Jan Markowsky, Vorsitzender des Vereins »Unter Druck«.
Die Armut in Berlin wird indessen zunehmen, da sind sich Karsten Krampitz und Jan Markowsky sicher. Von der Wohnungslosigkeit sind längst nicht mehr nur Männer betroffen, das haben beide beobachtet. Der Frauenanteil nehme im Obdachlosenmilieu beständig zu. Außerdem kommen seit der Grenzöffnung nach Osteuropa vermehrt Polen und Russen nach Berlin, die bedürftig sind. »Häufig sind das Arbeiter vom Bau, die nur Dumpinglöhne bekommen haben und jetzt hierbleiben«, hat Markowsky aus Gesprächen mit ihnen erfahren.
Manchmal kommen sie in Gruppen in die Wärmestube. Dann muss der gedrungene Mann mit dem grauen Schnauzbart, der früher selbst obdachlos war, Fingerspitzengefühl zeigen. »Es ist wichtig, Grenzen zu setzen«, meint er. Niemand habe Sonderrechte, und beim Frühstück stehe jedem Tee und Kaffee und ausreichend Essen zu. Er komme gut mit ihnen aus, sagt Markowsky und hebt dabei die Augenbraue, als wollte er das betonen. Natürlich weiß er, dass es Vorbehalte gegenüber den polnischen, russischen oder rumänischen Bedürftigen gibt. Vielfach schlägt ihnen die Fremdenfeindlichkeit auf der Straße entgegen, und selbst in einigen Wärmestuben wird ihnen der Zutritt verwehrt.
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Die Obdachlosenszene hat sich in Berlin in den letzten Jahren verändert. Darauf müsse die Politik reagieren, fordert Karsten Krampitz: »Aber aus dem Landeshaushalt wird Jahr für Jahr weiterhin eine feststehende Summe an die Wohlfahrtsverbände überwiesen, und damit ist für sie die Sache erledigt. Das ist wie ein Ablasshandel.« Darüber regt er sich auf.
Manchmal kommt Krampitz der Bahnhof in Lichtenberg wie ein Stadttor vor. »Bis dorthin kommen die Gestrauchelten aus dem Umland wie aus dem Osten – und das ›Nachtasyl Gorki‹ nimmt sie auf.« Das Nachtcafé sei eine Einrichtung zur richtigen Zeit am richtigen Ort, hofft er. Es soll dazu beitragen, ein Bewusstsein für die Lage der Obdachlosen zu schaffen. Dabei sei auch hilfreich, wenn die Armen im Straßenbild sichtbar sind und nicht an den Stadtrand abgeschoben werden, findet Susanne Bergknecht. »Schließlich soll diskutiert werden, wie ihnen geholfen werden kann.«
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