Streitfrage: Sollte die Bundesregierung aus dem Bologna-Prozess aussteigen?
Es debattieren Elisabeth Meyer-Renschhausen und Andreas Keller
Gescheiterte Hochschulreform
Künftig sollten Drittelparitätische Gremien von Professoren, Wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studenten ohne dauernde Staatseingriffe allein entscheiden dürfen, wie sie ihre Studiengänge gestalten. Bei der Neuanstellung von Hochschullehrern sollte zugunsten der Qualität der Lehre (!) auf die bisherige Altersdiskriminierung generell und grundsätzlich verzichtet werden.
Der Bologna-Prozess ist gescheitert. Denn die Reform missachtete die Tatsache: Entweder sind die Universitäten Hort der Aufklärung und Stätten einer »universellen« Allgemeinbildung als Voraussetzung eines säkularen Staates, der Demokratie. Oder die Universitäten sind Berufsschulen. Beides zusammen geht nicht. Und schon gar nicht kann man die Universitäten drittens auch noch zu potenziellen Anlageobjekten des internationalen Business machen.
Die von der Politik vorgeschriebenen Reformen zerstören die Universitäten. 1977 ließen sich die Länder darauf ein, mehr Studenten zuzulassen als von der Anzahl der Lehrenden eigentlich zulässig gewesen wären. Sie hofften auf Sondermittel des Bundes. Diese Gelder zur Einstellung von mehr Hochschullehrern kamen jedoch nie. »Die politisch gewollte Steigerung der Studienanfänger in den achtziger Jahren um 70 Prozent bei einer Vermehrung von Professorenstellen um sieben Prozent führte zu einer Anomie der Massenuniversitäten in Deutschland«, sagt der Freiburger Universitätssoziologe Wolfgang Eßbach.
Statt endlich Mittel zu bewilligen, wurden seit der ersten Kohl-Regierung 1982 die Universitäten in Richtung »Elitebildung« umgeformt, bis sie zu jenen von autokratischen Managern selbstherrlich regierten Bürokratiemonstern wurden, die sie heute sind. Der Staat regierte mit ständigen Anforderungen hinsichtlich der Umstrukturierung von Prüfungsverordnungen so lange in die Universitäten hinein, bis die Hochschullehrerschaft – mürbe geworden – bei der Einführung des Bologna-Prozesses nur halblaut protestierte.
Was der konservative Deutsche Hochschulverband kritisierte, setzte die Deutsche Rektorenkonferenz im Verein mit dem 1994 gegründeten Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) um. Dahinter steckten die von niemandem gewählten oder berufenen Berater der Bertelsmann-Stiftung. Die Ranking-Manie des CHE ermöglichte seither Privatunternehmen, das öffentliche Bildungswesen zu steuern. Es fördert eine zunehmende Ungleichheit zwischen Hochschulen. Und es zerstört die Einheit von Forschung und Lehre. Gelder, die die Unis benötigen würden, um neue Professoren anzustellen, fließen in grundgesetzwidrige »Akkreditierungen«.
Die Universitäten waren von der Idee – oder sollte es zumindest sein – eine Communitas von Lehrenden und Lernenden. Jetzt betrügen die Universitäten ihre Studierenden, indem sie ihre »weggesparten« Dozenten durch de facto Ein-Euro-Kräfte ersetzen. Sie lassen 10 bis zu 50 Prozent ihrer Lehre von geradezu pervers unterbezahlten Lehrbeauftragten ausführen (etwa 700 Euro für ein ganzes Semester). Nach Bericht des Landesrechnungshofs Schleswig-Holstein für das Jahr 2007 betrug der Anteil der Lehraufträge am Lehrangebot an allen Hochschulen des Landes im Studienjahr 2004/05 bereits 24,1 Prozent. Der Personaletat der Hochschulen wurde durch die Ausbeutung von Lehrbeauftragten jedoch mit weniger als zwei Prozent belastet. Der Landesrechnungshof von Nordrhein-Westfalen lobte in seinem Jahresbericht 2007 daher den Einsatz von Lehrbeauftragten und empfahl die Erhöhung ihres Einsatzes. An ärmeren Universitäten wie der Bergischen Universität Wuppertal erhielten 2007 nur noch acht Prozent der neu angestellten Wissenschaftlichen Mitarbeiter Verträge mit Laufzeiten über zwei Jahre.
Kurzum, mit dem wissenschaftlichen Personal geht man um, als wären sie sie lediglich das Wartungspersonal zum Nürnberger Trichter. Während früher als weise galt, den natürlichen Wissensvorsprung von Älteren zu respektieren, werfen die durch Sparauflagen und unsichere Etats erpressten Unis die Mehrzahl der Dozenten nach ein paar Jahren scharfer Ausbeutung durch das Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG 2007) auf den Misthaufen der Geschichte. Wer gar 20 bis 30 Jahre lang geschafft hat, mittels Forschungsprojekten, Vertretungsprofessuren oder Lehraufträgen zu überleben, erscheint gut bezahlten Bürokraten als offenbar allzu flexibel.
Durch die Erpressung der Universitäten mittels angeblicher Notwendigkeit, sparen zu müssen, wurden jene Fächer, die ermöglichen, das Funktionieren von Gesellschaften zu verstehen und helfen, sie nicht in Korruption und Agonie versinken zu lassen, weitgehend zusammengestrichen. Es handelt sich um jene Fächer, die die Mehrheit der Studentinnen bevorzugt: Soziologie, Ethnologie, Islamwissenschaften, Religionswissenschaften, Slawistik, die Sprachen überhaupt und die sozialpädagogischen Studiengänge. Zwischen 1995 und 2005 wurden allein 663 Professuren in den Sprach- und Kulturwissenschaften gestrichen. Die Hälfte der universitären Institute für Soziologie wurde abgeschafft. Die Naturwissenschaftler etc. wurden von den Geisteswissenschaftlern räumlich getrennt, damit sie nicht auf die Idee kommen, nachdenken zu wollen.
Zu helfen wäre den Unis nur, wenn man die übertriebene Gängelung durch eine europäische Vereinheitlichung (Bologna-Prozess) beenden würde. Erst dann wäre wieder an eine Universität zu denken, wo sich Studierende und Lehrende in klösterlicher Ruhe gemeinsam um die Lösung der geistigen Fragen einer Zeit bemühen. Und nur eine angemessene Zahl vernünftig bezahlter Dozenten kann den Studierenden eine adäquate Studienbetreuung offerieren.
Elisabeth Meyer-Renschhausen
Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen, 1949 geboren, ist freie Autorin und Privatdozentin am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Sie war in der Jugend- und Erwachsenenbildung wie auch freischaffend als Sozialforscherin tätig. Zuletzt veröffentlichte sie zusammen mit Paul Kellermann und Manfred Boni als Herausgeberin »Zur Kritik europäischer Hochschulpolitik« im VS-Verlag.
Die Umsetzung ist mangelhaft
Nein, die Bundesregierung sollte nicht aus dem Bologna-Prozess aussteigen, sondern endlich einsteigen.
1999 haben die europäischen Bildungsminister den Bologna-Prozess mit ehrgeizigen Zielen gestartet, von denen viele Unterstützung verdienen: die Förderung der Mobilität von Studierenden und Hochschulbeschäftigten im Europäischen Hochschulraum, die Verbesserung der Qualität von Studium und Lehre, die Anrechnung von Qualifikationen, die außerhalb der Hochschulen erworben wurden, oder die Stärkung der »sozialen Dimension« im Sinne von Chancengleichheit.
Zehn Jahre später müssen wir feststellen: Diese Ziele wurden bei der Umsetzung der Reformen in Deutschland in weiten Teilen verfehlt. Die Anerkennung von Studienleistungen ist nicht nur beim Wechsel von Budapest nach Berlin, sondern auch von Bielefeld nach Osnabrück ein großes Problem. Viele neuen Studiengänge gelten als »nicht studierbar«, Lernende und Lehrende klagen gleichermaßen über eine zu hohe Arbeits- und Prüfungsbelastung. Viele Universitäten schotten sich nicht nur gegen die berufliche Bildung, sondern auch gegen Fachhochschulen ab. Beim Übergang vom Bachelor zum Master droht eine neue soziale Hürde errichtet zu werden – dabei hängt schon heute fast nirgendwo der Bildungserfolg so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland.
Die Bildungsproteste des vergangenen Jahres waren mehr als berechtigt. Die GEW hat sie – mit den von ihr vertretenen Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern – von Anfang unterstützt und den internationalen Aufruf »Für eine Kehrtwende in der Bildungspolitik« initiiert, den 23 Bildungsgewerkschaften aus ganz Europa unterschrieben. Auch im Bologna-Prozess brauchen wir keinen Ausstieg, sondern eine Kehrtwende. Gescheitert ist nicht »Bologna«, sondern »Bonn«: nicht die in weiten Teilen unstrittigen Ziele der Bologna-Erklärung, sondern der deutsche Weg der Umsetzung durch die dafür verantwortlichen Institutionen Kultusministerkonferenz, die Hochschulrektorenkonferenz und Akkreditierungsrat, die alle in der früheren Bundeshauptstadt ihren Sitz haben.
Wir sollten uns daher vor falschen Bündnissen hüten – mit jenen Universitätsprofessoren, die den Schulterschluss mit Studierenden »gegen Bologna« suchen, aber tatsächlich die Hochschule »nach 1968« im Visier haben. Für sie ist »Bologna« das Chiffre für die »Massenuniversität«, die Aufwertung der Lehre, die Einschränkung professoraler Autonomie durch Mitbestimmung, ja für die Zurückdrängung des Deutschen als Wissenschaftssprache. Sie sehnen sich zurück in eine Zeit, als die Professoren ans Katheder treten konnten, ohne sich darum kümmern zu müssen, was von ihrer Vorlesung bei den »Hörern« ankam.
Der Bologna-Prozess hat maßgeblich mit dazu beigetragen, dass heute endlich die Lehre und die Studierenden im Mittelpunkt hochschulpolitischer Debatten stehen. Wenn wir den Anteil eines Altersjahrgangs, der ein Hochschulstudium erfolgreich abschließt, von derzeit 23 Prozent in Deutschland wenigstens auf OECD-Niveau (36 Prozent) anheben wollen, müssen wir zum einen die Hochschulen radikal ausbauen und sozial öffnen. Zum anderen müssen wir den jungen Menschen aber bestmögliche Rahmenbedingungen für ein erfolgreiches Studium und ihre beruflichen Perspektiven danach geben. Dafür hat der Bologna-Prozess die richtigen Stichwörter formuliert: Qualitätssicherung, studierendenzentrierte Lehre, Berufsbefähigung, soziale Dimension.
Statt die Politik aus ihrer Verantwortung für eine erfolgreiche Studienreform zu entlassen, sollten wir die Verheißungen der Bologna-Erklärung jetzt bei ihr einfordern. Die Einlösung der Bologna-Ziele setzt aber gerade einen Kurswechsel bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses in Deutschland voraus.
Studierende sollen endlich selbst entscheiden dürfen, ob sie im Bachelorstudium genug gelernt haben oder ein Masterstudium anschließen wollen – wir brauchen daher den freien Zugang zum Masterstudium für alle und ausreichend Masterstudienplätze. Die »soziale Dimension« des Europäischen Hochschulraums muss endlich ernst genommen werden – weg mit Studiengebühren, her mit einer leistungsfähigen Ausbildungsförderung.
Der Grundsatz der Studierbarkeit und der Studierfreiheit muss auch für Bachelor- und Masterstudiengänge gelten – wir brauchen daher weniger Prüfungsdichte und eine Begrenzung des »Workloads« auf ein Maß, das Studierende und Lehrende gleichermaßen bewältigen können.
Die Verantwortung für ein gutes Studium darf nicht einer abgeschotteten Bürokratie selbst ernannter Experten überlassen werden – die substanzielle Beteiligung von Hochschulen und Studierenden, Arbeitgebern und Gewerkschaften an Qualitätssicherung und Akkreditierung entspricht vielmehr Geist und Buchstaben der Bologna-Erklärung.
Die Bundesregierung sollte daher nicht aus dem Bologna-Prozess aussteigen, sondern endlich einsteigen. Die Verantwortung für die Umsetzung der Reformen haben im deutschen Bildungsföderalismus zwar grundsätzlich die Länder, die Verantwortung mit Hochschulen und Akkreditierungsrat teilen. Doch auch nach der Föderalismusreform von 2006 hat der Bund – neben der Ausbildungsförderung – zwei wichtige Gesetzgebungskompetenzen für die Hochschulen behalten: Gemäß Artikel 74 kann er die Hochschulzulassung und die Hochschulabschlüsse gesetzlich regeln. Dabei handelt es sich um zwei für die Bologna-Reformen zentrale Bereiche: Der Bundesgesetzgeber könnte den freien Zugang zum Masterstudium ebenso garantieren wie eine verlässliche Anerkennung der an anderen Hochschulen im In- und Ausland erworbenen Abschlüssen und Studienleistungen sichern.
»Berlin« sollte »Bonn« auf die Sprünge helfen: Es ist höchste Zeit, dass der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch macht und den überfälligen Kurswechsel im Bologna-Prozess anstößt. Nicht Ausstieg, sondern Einstieg in den Bologna-Prozess lautet daher die Devise.
Andreas Keller
Dr. Andreas Keller, Jahrgang 1965, ist Mitglied des Geschäftsführenden Vorstands der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und leitet den Vorstandsbereich Hochschule und Forschung. Davor war er am Institut für Politikwissenschaft der Universität Marburg und als Referent für Wissenschaftspolitik der PDS-Bundestagsfraktion tätig. Andreas Keller ist Herausgeber der »GEW Materialien zu Hochschule und Forschung« beim Verlag W. Bertelsmann.
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