Weichspülgang für Oettinger
Anhörung künftiger EU-Kommissare: Große Fraktionen wollen keine Differenzen
»Das war fast eine Krönungsmesse.« Inge Gräßle, CDU-Europaabgeordnete aus Baden-Württemberg, kann sich kaum noch einfangen vor Begeisterung. Hinter ihr liegen drei Stunden Anhörung des designierten EU-Kommissars für Energie, dem Noch-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Günther Oettinger. Tatsächlich hat er sich am Donnerstag beachtlich gut aus der Affäre gezogen.
Nur zweimal schien es brenzlig zu werden. Doch dabei zeigte sich der Schwabe gut vorbereitet. Als der Luxemburger Grünen-Politiker Claude Turmes das Wort ergriff, wusste Oettinger, dass es gefährlich werden könnte. Streitlustig nämlich ist Turmes, und gleichzeitig sehr fachkundig. Die erste Frage zu Oettingers Aufgeschlossenheit gegenüber der Atomenergie parierte der Kommissarsanwärter diplomatisch geschickt. Als ihm Turmes im Nachhaken dann zu große Nähe zu den Bossen der Energiekonzerne e.on und RWE anhängen wollte, konterte Oettinger nach allen Regeln der Kunst, führte Turmes vor und hatte zum Schluss die Lacher auf seiner Seite.
Das zweite Mal griff die Schwedin Marita Ulvskog dort an, wo es unangenehm hätte werden können. Die Sozialdemokratin sprach Oettinger auf seine Vergangenheit im rechtsgerichteten Weikersheimer Kreis an, auf seine angeblich fragwürdigen Äußerungen zu Juden und Homosexuellen. Fragen, die zu befürchten waren, aber nur einmal, ohne weiter nachzuhaken, gestellt wurden. Vielleicht, weil Oettinger sie souverän beantwortete? Die Mitgliedschaft im Weikersheimer Kreis habe er von seinem Amtsvorgänger geerbt, habe nie an einer Sitzung teilgenommen und sei 2007 ausgetreten. Zu den jüdischen Mitbürgern habe er nachweislich ein gutes Verhältnis. »Was in unserem Land allein schon aus historischen Gründen sehr wichtig ist.« Zweite Klippe umschifft.
Der Rest war dann Geplätscher. Je länger die Veranstaltung dauerte, desto deutlicher wurde es, dass die Anhörung eines Energiekommissars auch für die EU-Parlamentarier neu ist. Schließlich gibt es das Amt in dieser Form jetzt zum ersten Mal. Die Fragen blieben oft allgemein. Leichtes Spiel deshalb für Günther Oettinger, der konzentriert, aber gelassen dozierte, seine Antworten mit der Zeit lediglich in immer neuen Varianten wiederholte: Solidarität bei der Energieversorgung in der EU, aber auch über die Unionsgrenzen hinaus. ein Energiemix, Unabhängigkeit seines eigenen Handelns als Kommissar, immer offen als Partner für das Parlament.
In der Anhörung habe Oettinger nichts zu solchen an Brisanz gewinnenden Themen wie Energiearmut und -unterversorgung der armen Menschen in Europa gesagt, kritisierte die Europaabgeordnete der LINKEN Gabi Zimmer: »Wie will Herr Oettinger angesichts verknappender Ressourcen, steigender Energiepreise und eines lang anhaltenden Winters seiner Verantwortung gerecht werden, dass die Heizungen auch bei den Ärmsten warm werden? Er hat kein politisches Konzept, dass die Grundversorgung der Menschen einschließt. Oettinger ist ein Industriepolitiker im schlechtesten Sinne des Wortes«, so die Abgeordnete nach der Befragung.
Mit der Oettinger-Anhörung gestern Vormittag war erneut zu beobachten, was schon die ganze Woche die Anhörungen der designierten EU-Kommissare durch die Ausschüsse des Parlaments charakterisiert: Das Säbelrasseln ist verstummt. Von dem Willen der Abgeordneten, die Kandidaten so richtig heftig zu »grillen«, wie es im EU-Jargon heißt, ist nichts mehr übrig. Vielmehr ist unter der Hand die Rede von Stillhalteabkommen, die die großen Fraktionen im EU-Parlament geschlossen hätten. Die Konservativen schießen sich nicht auf einen Kandidaten mit sozialdemokratischem Parteibuch ein, umgekehrt genauso, und auch die Liberalen bleiben brav. Weichspül-Waschgang statt Grillfest also.
Nur einmal wurde es bislang laut, ja sogar tumultartig. Als am Dienstag die Bulgarin Rumjana Schelewa, für den Bereich internationale Zusammenarbeit und humanitäre Hilfe vorgesehen, sich den Fragen der Volksvertreter stellte, warfen ihr ihre Landsleute offen Falschaussage vor. Die angeblichen Verbindungen ihres Mannes zur Mafia und unwahre Antworten zu eigenen Geschäften machen es fraglich, ob Schelewa tatsächlich der neuen Kommission angehören wird. Wahrscheinlich wird man sich hinter verschlossenen Türen kommende Woche unter den großen Fraktionen einigen.
»Der Jagdinstinkt ist bei den Abgeordneten nicht mehr da, weil alle endlich wieder arbeiten wollen«, sagt zu diesen Soft-Anhörungen Jorgo Chatzimarkakis, FDP-Europapolitiker aus Nordrhein-Westfalen, gegenüber ND. Seit November besitzt die EU-Kommission keine Legitimität mehr und ist deshalb nur bedingt handlungsfähig. Würden die Parlamentarier jetzt einen designierten Kandidaten ablehnen, könnte die neue Kommission ihre Arbeit nicht wie geplant am 1. Februar aufnehmen. Alles würde sich noch mehr verzögern, was durch das Warten auf das Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags sowieso schon geschehen war. Daher also das Stillhalten der großen Fraktionen. Grummeln von Einzelnen hier und dort. Aber kein Aufstand. Ausnahme bislang nur Schelewa.
Dass die kleinen Fraktionen da nicht unbedingt mitspielen, stört den Betrieb nicht wirklich. Das Abnicken des gesamten Teams von Kommissionspräsident Barroso scheint deshalb eine bereits im Vorfeld der Anhörungen beschlossene Sache zu sein. Obwohl es auch den Europaparlamentariern nicht entgangen sein dürfte, dass hinter den vielen schönen Worten, die der Portugiese selbst für seine zweite Amtszeit formuliert hat und die von vielen designierten Kommissaren bei ihren Anhörungen lediglich brav paraphrasiert werden, wirklich konkrete und langfristig wirkende Maßnamen und Programme für Europa kaum erkennbar sind.
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