Eine Liebe in Kurland

Kurt Tucholsky begegnet der jungen Baltin Mary Gerold

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 8 Min.
Er, Kurt Tucholsky, hatte viele Frauen. Für Mary Gerold, die nach 1945 ganz allein und mit beeindruckender Energie das Tucholsky-Archiv aufbaute, gab es nur einen Mann: ihn. Sie lernten sich 1917 kennen, heirateten 1924 und trennten sich vier Jahre danach. 1933 wurde die Ehe geschieden. Ihre Beziehung ist reich an Verstörungen und Krisen, ein Auf und Ab aus Glück und Entfremdung. Klaus Bellin erzählt in seinem Buch »Es war wie Glas zwischen uns. Die Geschichte von Mary und Kurt Tucholsky«, das im März im Verlag für Berlin-Brandenburg erscheinen wird, von einer Liebe, die nicht gelebt werden konnte und trotzdem nicht starb.
Kurt Tucholsky im September 1918 in Rumänien / Mary Tucholsky
Kurt Tucholsky im September 1918 in Rumänien / Mary Tucholsky

Der Unteroffizier Kurt Tucholsky ist gleich hellwach. Am 11. November 1917 läuft ihm eine junge Frau über den Weg, die er bisher nicht wahrgenommen hat. Seltsam, dass er sie nicht früher sah. Vor einem guten Monat sind zweihundert Mädchen aus Riga gekommen, »um beim Kriegführen zu helfen«. Er hat es, ziemlich belustigt über diese ungewöhnliche Verstärkung, umgehend dem geschätzten Kollegen Hans Erich Blaich nach Fürstenfeldbruck gemeldet und hinzugefügt: »Sie können sich das Theater vorstellen: man wird an H. Manns ›Kleine Stadt‹ erinnert, wie so alles in den Grundtiefen aufgerüttelt ist. Zum Kullern. Warum lacht man nur immer über die Kaninchen so?«

Jetzt, beim Anblick dieses Mädchens, lacht er nicht mehr. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke. Er gibt den Draufgänger, den Einheimischen, den Überlegenen. Er winkt mit dem Finger, zieht seine Mütze und sagt: Komm her. »Ich war baff«, schreibt Mary Gerold ins Tagebuch, »und kümmerte mich nicht um ihn.«

Sie muss sich umgehend über ihn informiert haben, denn schon in der Notiz am nächsten Tag nennt sie seinen Namen. »Die Tür zur Rapport-Abteilung stand offen«, heißt es im Tagebuch. »Plötzlich kommt jemand herein – ich drehe mich um – und muß lachen – Dr. jur. Kurt Tucholsky.« Dass er ihretwegen kommt, ahnt sie nicht. Er verwickelt einen Sergeanten ins Gespräch, kehrt ihr dabei den Rücken zu und schiebt ihr in einem günstigen Moment einen Brief zu, den sie instinktiv unter einem Buch versteckt. »Ist der Mensch gerieben! Er sieht sehr gut aus und ist furchtbar mokant.«

Das Schreiben enthält eine Einladung. Es bittet um Benachrichtigung, »ob man Sie heute abend um 7 Uhr zu ein klein wenig Sekt erwarten darf. – Ein kurzer Besuch im Geschäftszimmer der Leihbibliothek – am besten um 12 Uhr – ist willkommen.

Mit einem schönen Gruß in ein Paar lustiger Augen.«

Aber die lustigen Augen bekommt Kurt Tucholsky an diesem Tag nicht mehr zu sehen. Mary schlägt die Einladung wortlos aus. Natürlich, schreibt sie, sei sie nicht hingegangen.

Das Spiel ist eröffnet. Er wirbt, sie zögert. Er drängt, sie hält sich zurück, spielt auf Zeit, sendet ihm, selbstbewusst, erst einmal einen »strafenden Blick« für seine Einladung, die, weil er vermutlich ihren Namen noch nicht kennt, ohne Anrede mit der Tür ins Haus fiel. »Mein sehr verehrtes gnädiges Fräulein«, schreibt er nun formvollendet und gar nicht kleinlaut zurück und räumt ein, »daß der kleine Zettel für geordnete Verhältnisse eine Unmöglichkeit war … Aber Sie wollen bitte bedenken, daß Autz kein Salon ist und die hiesigen Verhältnisse nicht mit denen in einer großen Friedensstadt verglichen werden können.«

Eine Friedensstadt ist dies wirklich nicht. Man befindet sich mitten in Kurland und mitten im Krieg, wenngleich hier glücklicherweise nicht geschossen wird. Alt-Autz, etwa neunzig Kilometer von Riga entfernt, ist Etappe, weit weg von den Schlachtfeldern des Ostens. Das Kurland, ein Landstrich zwischen der Ostsee, der Bucht von Riga, Livland und Litauen, bewohnt von Letten und Deutschbalten, seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts russisches Gouvernement, ist 1915 von deutschen Truppen besetzt worden. Im Juni 1916 hat das Kriegsministerium in Berlin die »Aufstellung einer Artillerie-Beobachtungsschule« bei Groß-Autz verfügt, die seit Oktober 1916 Artillerie-Fliegerschule Ost heißt. Kurt Tucholsky, im Februar 1915 im zweiten Anlauf an der Jenaer Universität zum Doktor der Rechte promoviert, kurz darauf, im März, gemustert und seit dem 10. April Armierungssoldat, ist im August 1916 mit seiner Einheit hierher zum Bau der Fliegerschule-Ost verlegt worden. Zwar ist das Leben öde und leer, wie er im November 1917 erklärt, aber Besseres konnte ihm im Grunde nicht passieren. Die Gefahr, sein Leben einzubüßen, ist hier sehr gering, man lebt einigermaßen bequem, und außerdem ist's auch noch eine schöne Gegend, in die es ihn verschlug.

Der Soldat Tucholsky hat sich in der ruhigen Ecke des Krieges eingerichtet. Er hat Zeit. Zeit für sich. Der Dienst lässt ihm einige Bewegungsfreiheit, er kann lesen und sogar publizieren. Er entwirft das Konzept einer Soldatenzeitung, die Ende November 1916, acht Seiten stark, aus der Taufe gehoben wird. Das Blatt, dessen Schriftleiter er wird, nennt sich »Der Flieger« und erscheint vorerst in zweihundert Exemplaren, später in vierhundert und dann, 1918, sogar in tausend. Tucholsky hat eine Spielwiese gefunden, ein unter diesen Umständen ideales Betätigungsfeld, auch wenn er nicht nach Belieben schalten und walten kann. Die Kriegszensur schließlich ist allgegenwärtig.

Sie kenne ihn doch gar nicht, erklärt Mary Gerold und macht ihm mit dieser Erklärung die Sache leicht. Dies ließe sich doch ändern, meint Tucholsky schon im zweiten Brief und hat diesmal Erfolg. Gegen einen »kleinen Gang auf dem östlichen Kriegsschauplatz« hat sie nichts einzuwenden, und so spazieren sie ein bisschen im Novembernebel, der alles verwischt und im Ungewissen lässt.

Der Mann versteht es, seine Worte zu setzen. Das merkt Mary sofort. Es imponiert ihr, schmeichelt ihr auch, doch sie rät sich, ausgeliefert ihren widersprüchlichen Empfindungen, erst einmal zur Vorsicht.

Mary Gerold ist noch keine neunzehn Jahre alt. Sie stammt, geboren am 28. November 1898, aus einer deutschbaltischen Familie. Im Rigaer Elternhaus sprach man deutsch, aber sie beherrscht auch das Russische. Sie hat sich manchmal sogar als Russin bezeichnet, andererseits aber auch distanziert von »den Russen« gesprochen.

In Riga hat Mary Gerold die Schule besucht, das »Elementarlehrerin Examen« abgelegt und zwei Jahre lang die Städtische Töchterschule absolviert, bis die Anstalt nach Kriegsbeginn verlegt wurde. Als deutsche Truppen Riga am 3. September 1917 besetzten, hat sie sich, wie andere Mädchen aus deutschbaltischen Familien auch, als Hilfsdienstwillige beim deutschen Heer anwerben lassen. Sie wird in der Fliegerschule eingesetzt, wo sie nun in der Rapportabteilung der Kassenverwaltung arbeitet.

Tucholsky, auf leichteres Spiel fixiert, ist auf so viel Zögern und Zurückhaltung nicht gefasst. Am 15. November 1917 schickt er Mary keinen Brief, sondern ein Gedicht. Es hat keine Überschrift, aber ein Motto: »Ich esse meine Suppe nicht! Nein! Meine Suppe ess ich nicht!« Das Gedicht beginnt mit der Strophe: »Sag ich grün, so sagst du blau – / Will ich tanzen, möchtst du reiten – / Ach! Es gilt zu allen Zeiten: / Recht hat immer nur die Frau. / Will dich jemand leise küssen: / »Wie? Mich zwingen? Ich soll müssen?« – / Und dich stößt im Mädchenrock / Immer nur der Bock / Bock / Bock. »Die Mühe, die er sich gibt, muss sie beeindruckt haben. Dass er sich, kaum sind sie nach einem Treffen auseinandergegangen, hinsetzt und schon wieder einen Brief schreibt. Dass er für sie dichtet. Dass er ihr Worte schenkt, wieder und wieder, schöne, lebendige, leuchtende Worte. Viel später erst wird sie einräumen, dass Tucholsky es schwer mit ihr hatte. Sie war der Norden, »wo sich die Geliebte, die Frau, das Mädchen, lieber die Zunge abbeißt, als dem Mann zu sagen: Ich liebe dich!«

Mary hat im Tagebuch alles haarklein berichtet: seine Worte, ihre Worte, seine Fragen, ihre Entgegnungen, sein Drängen, ihr Erschrecken, seine Appelle, ihre Fluchten. Sie ist, maßlos verwirrt, in ein Gefühlschaos geraten, aus dem sie sich immer wieder mühsam und beherrscht befreien muss. Sie sehnt sich nach Liebe und liegt gleichzeitig auf der Lauer, jederzeit bereit zum schnellen Rückzug, bereit, die eigenen Hoffnungen sofort zu begraben. Das Tagebuch hat den Taumel getreulich dokumentiert. Kaum ist der Kuss mitgeteilt, schlägt die Stimmung schon wieder um. Dann will sie weg, und er versucht sie zu halten. Es folgt eine neue Diskussion und schließlich doch noch eine Umarmung.

Am 11. März 1919 schreibt Mary ins Tagebuch: »Ich will nicht schwach sein, ich hasse, hasse, hasse Schwäche.«

Am 6. April 1918 kündigt sich Kurt Tucholskys Versetzung an. Das Karlchen, der beste Freund seit einem Jahr, inzwischen Feldpolizeikommissar bei der Politischen Polizei in Bukarest, macht sein Versprechen wahr, Tucholsky nach Rumänien zu holen. Der Mann heißt in Wirklichkeit Dr. Erich Danehl und ist Karlchen nur in den Geschichten, die später entstehen. Er war im Frühjahr 1917 in Alt-Autz, ist zweieinhalb Jahre älter, promovierter Jurist und humorvoller Gesprächspartner, klug, gebildet, redegewandt, das Gegenbild zu den Kommissköppen ringsum. Man bewohnte eine Stube und verstand sich auf Anhieb. Endlich jemand mit Niveau, Charme, Witz und Geist. Die Freundschaft war schnell besiegelt.

Die Entscheidung ist schwer, gerade jetzt. Soll er gehen, soll er bleiben? Tucholsky gibt die Frage an Mary weiter. Ihre Antwort soll klären, ob sie eine gemeinsame Zukunft haben. Doch Mary, gelähmt vor Schreck, gibt ihm nur spitz zu verstehen, er solle tun, was für ihn das Beste sei. Zu stolz, den Tumult im Innern zuzugeben, verkriecht sie sich wieder ins Schneckenhaus und vermeidet es, ihre Betroffenheit preiszugeben. Nur das Tagebuch verrät, wie ihr zumute ist: »das Glück war zu groß, es mußte so kommen«.

Sie sind sich nah und bleiben doch an getrennten Ufern. Keiner versteht die Signale des anderen. Tucholsky, der alles auf eine Karte setzt, hat gehofft, sie mit der drohenden Trennung aus der Reserve locken zu können, und Mary versteinert, weil gleich wieder die Befürchtung da ist, die sie instinktiv nie auslöschen konnte: dass alles doch nur ein Spiel war, ein schöner, aber nicht ernst gemeinter Zeitvertreib.

Die Tränen kommen, wenn alles zu spät ist. Tucholsky stimmt seiner Versetzung zu und fängt an zu packen. Der 24. April ist sein letzter Tag in Alt-Autz. »Mittags holte ich ihn ab«, notiert Mary. »Wieder gingen wir in unser Wäldchen. – Keiner sprach ein Wort. – Beide heulten wir.« Zwanzig Zimmer, meint Tucholsky dann, könne er ihr nicht bieten, »aber ein mittelbürgerliches Leben, solide fundiert«. Daraufhin, so das Tagebuch, heulen sie erneut, sie küssen sich noch einmal, und Tucholsky gesteht Mary, die erste Frau in seinem Leben zu sein, »von der ich wünschte, ein Kind zu haben.«

Es ist Liebe. Das wissen nun beide.

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