Zukunftsmodell Telemedizin
Durch digitale Vernetzung soll dem Ärztemangel im ländlichen Nordosten begegnet werden
Greifswald. Bei Schlaganfall-Patienten zählt jede Minute. »Innerhalb von drei Stunden nach einem Schlaganfall muss mit der passgerechten Therapie des Patienten begonnen werden«, erklärt Professor Norbert Hosten, Leiter des Projektes Telemedizin an der Universität Greifswald. Gerade aber in ländlichen Regionen sind die Wege zu Experten weit, wertvolle Zeit verbringen die Patienten möglicherweise im Rettungswagen auf der Straße. Mit der Telemedizin sollen künftig in den ländlichen Regionen von Vorpommern, Nordbrandenburg und dem polnischen Westpommern die Versorgungsstrukturen verbessert werden.
Innerhalb von Minuten – so das Ziel – werden dann von kleineren Krankenhäusern Befunde an Zentren in Greifswald oder dem polnischen Szczecin (Stettin) gesandt und dort beurteilt. Die Ärzte vor Ort können dann die optimale Behandlung einleiten.
Beiderseits der Oder
Die Telemedizin ist nicht neu. Unter dem Motto »Lasst Daten wandern und nicht die Patienten« startete bereits 2002 ein erstes Projekt in Vorpommern und Nordbrandenburg mit insgesamt zehn Kliniken. Damals ging es zunächst um die Zweitdiagnose von Röntgen- oder Tomographie-Aufnahmen und um die Beurteilung von Gewebeproben durch Fachleute im entfernten Uni-Klinikum Greifswald noch während der Operation. Seit Montag sind 35 Kliniken diesseits und jenseits der Oder in das Telemedizin-Projekt eingebunden, das die EU in den nächsten fünf Jahren mit rund 11,4 Millionen Euro fördert.
Die Telemedizin, davon sind Politik und auch Ärzte inzwischen überzeugt, ist ein Schlüssel zur Aufrechterhaltung von hohen medizinischen Standards in ländlichen Regionen mit Ärztemangel. »Das Projekt hat bundesweit und auch in Europa Pilotcharakter«, sagte Wirtschaftsminister Jürgen Seidel (CDU). Für den Ärztlichen Direktor des Universitätsklinikums Greifswald, Marek Zygmunt, trägt das Projekt zu einer ausgewogenen Entwicklung in der Region und zur Harmonisierung der Lebensverhältnisse bei. Der Marschall der Woiwodschaft Westpommern, Wladyslaw Husejko, lobte das Vorhaben als beispielhaftes Modellprojekt im Zeitalter der Informationstechnologie des 21. Jahrhunderts. Das Grundprinzip, die Übermittlung von Daten, soll mit dem Millionen-Förderprojekt auf neue Anwendungsfelder in der Augenmedizin, bei der Behandlung von Hals-Nasen-Ohren-Krankheiten, in der Urologie oder Neurochirurgie übertragen werden.
Ein Beispiel: Die altersbedingte Makula-Degeneration des Auges ist laut Bundesverband der Augenärzte mit 50 Prozent die häufigste Ursache für Sehbehinderungen. Mit zunehmendem Alter wird die Stelle des schärfsten Sehens zerstört, Betroffene können nicht mehr lesen, wie der Greifswalder Augenarzt Clemens Jürgens erklärt. Die an dem Modellprojekt beteiligten Krankenhäuser werden nun über das Projekt mit den entsprechenden Spezialgeräten zur Untersuchung des Augenhintergrundes ausgestattet. Die Befunde gehen an die medizinischen Zentren in Greifswald oder Szczecin und werden dort von Experten begutachtet, die auch Therapievorschläge unterbreiten.
Gemeinsame Logistik
Die deutschen und polnischen Projektpartner arbeiten zwar in den nächsten Jahren gemeinsam an den technischen und logistischen Voraussetzungen und profitieren dabei auch von den Erfahrungen der Partner auf der anderen Seite der Grenze. »Wir wollen das Rad nicht zweimal erfinden«, begründet Projektleiter Hosten die enge Zusammenarbeit. Was bisher nicht vorgesehen ist, ist der Austausch von Patientendaten und Bildern über die Grenze hinweg. Ein wesentlicher Grund: die unterschiedlichen Gesundheits- und Abrechnungssysteme für medizinische Leistungen.
Entstehen werden damit zwei Telemedizin-Netzwerke, eines mit 21 Kliniken in Deutschland (von Bergen bis nach Schwedt und Bernau) und eines mit 14 Krankenhäusern in Polen, unter anderem in Poznan (Posen), Koszalin (Köslin), Kolobrzeg (Kolberg) oder Gryfice (Greifenhagen).
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.