Der lange Weg zur Ambulanz
90 Prozent der Obdachlosen bräuchten einen Arzt, für viele ist medizinische Versorgung unerreichbar
Pierre lehnt auf einer Krücke vor einem Schnellimbiss in der Schönhauser Allee und bittet die Passanten um etwas Geld. Mit leiser, aber fester Stimme. Am Bein hat er schon seit Wochen eine Wunde, die eitert. Das riecht übel. Er braucht dringend einen Arzt – aber da fangen seine Probleme an. Denn Pierre, ein Mann um die 30, ist nicht krankenversichert, und als Wohnungsloser bekommt er auch keine Unterstützung vom Jobcenter, so dass er tagein, tagaus am Gehsteig steht und bettelt. Mit seinem Leiden ist Pierre kein Einzelfall. In Berlin gibt es mehr als 10 000 Obdachlose, und fast alle von ihnen sind krank. Der Verein »Armut und Gesundheit in Deutschland« geht davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der auf der Straße Lebenden dringend eine ärztliche Behandlung bräuchten. Der Senat weiß um diesen Missstand und unterstützt deshalb medizinische Notversorgungen für Bedürftige.
Eine solche Arztpraxis befindet sich am Ostbahnhof. Sie wird von der Gesellschaft für Gesundheit MUT betrieben, die an eine Tagesstätte für Wohnungslose angegliedert ist. Die Patienten warten auf einem Gang, von dem die Behandlungszimmer abzweigen. Es riecht nach Desinfektionsmitteln, und man hört unentwegt den Bohrer des Zahnarztes surren. Zu den Sprechzeiten ist hier immer Betrieb. »Wir können unsere Patienten nicht durchwinken wie in anderen Praxen«, meint Krankenschwester Kerstin Siebert, sondern man müsse sich Zeit für sie nehmen. »Wenn wir am Tag 30 Patienten haben, sind wir fix und alle.«
Als die Ärztin Monika Schulthes aus Alt-Biesdorf vor sechs Jahren in Rente ging und ihre Praxis auflöste, gab sie die medizinische Einrichtung an MUT weiter. »Ohne Spenden würde hier nämlich nichts existieren«, meint Kerstin Siebert. Monika Schulthes bot darüber hinaus auch ihr Fachwissen an. Einmal in der Woche übernimmt sie den Dienst in der Praxis und entlastet mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit die beiden Hausärzte.
Eine weitere Ambulanz für Obdachlose gibt es am Bahnhof Zoo, die dem Wohlfahrtsverband Caritas angegliedert ist. Drei Ärzte praktizieren hier, und je einmal die Woche kommen ein Orthopäde sowie ein Hautarzt. »Unsere Hilfe ist vom Mangel bestimmt und lückenhaft«, das weiß Stephan Arndt, Sozialarbeiter der Ambulanz. Die Zuwendungen vom Senat reichen auch hier nur für das Notwendigste. Wie in der Praxis am Ostbahnhof wird die Versorgung mit Medikamenten vor allem dank Spenden finanziert.
Aber warum sind Obdachlose wie Pierre nicht wie andere Arbeitslose krankenversichert? Nach der Arbeitsmarkt-Reform vor fünf Jahren sollte jedem eine Grundsicherung zustehen. Auch Pierre ging zum Jobcenter, um Hartz IV zu beantragen. Die Sachbearbeiterin habe ihm gesagt, dass er für den Antrag eine Anschrift benötige. Die konnte er aber nicht vorweisen. »Ich fragte sie, ob ich den Putz von den Wänden fressen soll und bekam als Antwort eine Adressenliste mit Suppenküchen in die Hand gedrückt.«
Stephan Arndt wundert sich nicht über das Verhalten der Sachbearbeiterin. Das sei die übliche Praxis bei den Jobcentern. Wer obdachlos sei, könne seiner Mitwirkungspflicht bei der Arbeitssuche nicht nachkommen, und das werde sanktioniert. Die Hartz-Gesetzgebung habe sich »Fordern und Fördern« auf die Fahnen geschrieben. »Leider auch in der Reihenfolge«, bedauert Arndt. Obdachlose müssten aber erst eine Unterstützung erfahren, bevor ihnen etwas abverlangt werde. Nur so sei der Teufelskreis zu durchbrechen.
Also ist Pierre auch weiterhin auf Zuwendungen von Passanten angewiesen. Der Weg zur Arztpraxis ist für ihn weit, und die Probleme würden schon in der Bahn anfangen, weil sich die Fahrgäste wegen seines Geruchs belästigt fühlen. Monika Schulthes, die Ärztin vom Ostbahnhof, besteht allerdings darauf, dass die Patienten zu ihr kommen. Anders gehe es nicht.
Die Ambulanz am Zoo ist für solche Fälle besser vorbereitet. Ihr steht ein Arztmobil zur Verfügung, das zu sozialen Brennpunkten in der Stadt fährt und die Bedürftigen vor Ort versorgt. Zwar liegt der Prenzlauer Berg, wo Pierre im Winter bei einem Freund untergekommen ist, nicht auf der Route des Wagens, doch ließe sich ein Abstecher einplanen, stellt Stephan Arndt in Aussicht. Schließlich sei das Mobil dazu da, um auf die Bedürftigen zuzukommen.
Doch Pierre ahnt schon, dass er womöglich stationär behandelt werden muss und hat Bedenken. »Ich will nicht anschließend dafür in den Knast gehen, weil ich nicht krankenversichert bin und die Kosten nicht bezahlen kann.« Doch das hilft ihm auch nicht weiter. Er muss zum Arzt.
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