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Blutbad oder Albtraum
Atiq Rahimi: »Stein der Geduld«
Beim Lesen wähnt man sich in einem Zuschauerraum. Wie ein Film spult sich der Roman von Atiq Rahimi vor dem inneren Auge des Lesers ab. Ein anspruchsvolles Werk mit langen Einstellungen und Nahaufnahmen, nur von ganz kurzen Action-Szenen unterbrochen. Dazwischen bleibt die Zeit fast stehen. Im Hintergrund Schüsse. Die ganze Handlung auf ein kahles Zimmer zusammengedrängt. Die Frau, die wir die meiste Zeit sehen: Paraderolle für eine Schauspielerin, die in ihrem Monolog alle Höhen und Tiefen des Gefühls durchspielen kann. Der Mann, der da bewegungslos auf einer roten Matratze liegt: Man könnte ihn für eine Puppe halten und erschrickt umso mehr, als er am Schluss aufspringt. Ein böser Geist, und die Frau umschlingt seine Füße: »Mein seng-e sabur explodiert!... danke, Al-Sabur«
Seng-e sabur, Stein der Geduld: ein Stein für alle Unglücklichen. »Geh hin! Übergib ihm deine Geheimnise, bis er zerspringt ... bis du von deinen Qualen erlöst bist!« Davon erzählte ihr der Schwiegervater am Tag vor seinem Tod. Er meinte den Stein von Mekka, doch für sie wird nun der Mann zu diesem Stein. 16 Tage liegt er schon im Koma, nachdem ihn eine Kugel ins Genick getroffen hat. Ist ihrer Fürsorge anheim gestellt und ihrer Angst. Immer wieder hat sie ihn angefleht, ihr ein Lebenszeichen zu geben, sie nicht allein zu lassen. 99 Mal am Tag soll sie einen der 99 Namen Gottes aufsagen und das 99 Tage lang, so hat ihr der Mullah geraten. Demut – doch darunter immer schon Groll.
Hütet euch vor den Verstummten. Das Geräusch von Stiefel draußen und das Erwachen ihres Zorns sind eine Melodie. Einmal schiebt sich der Lauf eines Gewehrs durch die zerborstenen Scheiben. Männer in schwarzen Turbanen treten ein. Ein Land im Dauerkrieg: Afghanistan. 1962 in Kabul geboren, lebt Atiq Rahimi seit 1985 in Frankreich, veröffentlichte den auch auf Deutsch vielbeachteten Roman »Stein und Asche«, hatte als Regisseur Erfolge. Für »Stein der Geduld« – sein erstes auf Französisch geschriebenes Buch – hat er den Prix Goncourt erhalten. Aus der Ferne schrieb er die Bitternis über die ausweglose Situation in seiner Heimat aus sich heraus.
Sinnbildhaft ist die Situation der namenlosen Frau. Opfer des Krieges, Opfer der Umstände immer schon, ist sie allein gelassen von allen. Auch für sie scheint es keinen Ausweg zu geben – wie in dem mystischen Märchen, das sie von ihrem Schwiegervater hörte und das auch den Leser lange nicht loslassen wird. Sie liest im Koran – und sie beginnt zu reden. »Die Stimme, die aus meiner Kehle kommt, sei die Stimme, die seit Tausenden von Jahren verschüttet ist.«
Prosa von suggestiver Kraft: Man legt das Buch nicht aus der Hand, auch wenn sich keine Brücke zu eigenem Erleben zeigt. Weit, weit entfernt bin ich von dieser Frau, die ich dennoch verstehe. Rätselhaft bleibt mir das furiose Finale. Blutbad oder Albtraum? Kunstvoll hat der Autor die Konturen der Wirklichkeit verwischt. Der Mann ein Untoter, die Frau eine Tote? Oder bringt sie ihn um und bleibt am Leben? Eben war man noch hoffnungslos, doch dann: »Jemand betritt das Haus.« Tausend Jahre Einsamkeit sind vorbei.
Atiq Rahimi: Stein der Geduld. Aus dem Französischen von Lis Künzli. Ullstein Verlag. 168 S., geb., 18 €.
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