Grobkörnige Alltagsportraits
Galerie Kicken Berlin zeigt Fotografien Ostdeutscher Fotografen zwischen 1950 und 1980
Den Mund grimmig verzogen, die Arme im Schwung der Bewegung erstarrt, so marschiert der Mann dem Spielmannszug voran. Ein ganzes Stück hinter ihm folgen die uniformierten Musiker in drei Reihen nebeneinander, mit Helmen und Standarte. »Der Führer« heißt dieses Foto von Gundula Schulze Eldowi aus dem Berlin des Jahres 1987, und die eingefrorene Dynamik, die es vermittelt, sagt viel aus über die Stimmung damals, zwei Jahre vor der Wende.
Ausgewählten ostdeutschen Fotografen widmet die Kicken Galerie in Mitte ihre Ausstellung »East Side Stories. German Photographs 1950s-1980s«. Allesamt sind es auf unspektakuläre Weise fesselnde Aufnahmen in unterschiedlichen Grautönen, die den Alltag in der DDR auf sehr persönliche Art und Weise abbilden, außerhalb der vom Staat verordneten Sichtweise. So wirken die Menschen, die Ursula Arnold zwischen 1956 und `65 in den Straßen von Leipzig und in der S-Bahn Ostberlins in körnigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen festgehalten hat, nicht heroisch und kämpferisch, sondern müde und erschöpft.
Um frei die DDR-Wirklichkeit dokumentieren zu können, gab die studierte Fotografin ihre bildjournalistische Arbeit früh auf und verdingte sich als Kamerafrau beim Fernsehen. Ihre stillen, melancholischen Alltagsbeobachtungen entstanden an freien Tagen, als eine Art »Selbsttherapie«.
Authentisch sind auch Helga Paris’ Porträts unangepasster Berliner Jugendlicher, die nachdenklich und ernst unter ihren Punk-Frisuren hervorgucken. Sie posieren nicht, sondern geben vor der Kamera etwas von sich preis – und wer selbst schon einmal fotografiert hat weiß, wie schwer ein solches Vertrauensverhältnis herzustellen ist. Doch wenn es gelingt, wenn durch Linse und Objektiv hindurch die Persönlichkeit von Menschen sichtbar wird, springt der Funke auf den Betrachter über. So wie bei Ute Mahler, deren 1972 begonnene Serie »Zusammen Leben« das eigentlich Unsichtbare sichtbar macht: den Zusammenhalt zwischen Familien, Paaren, Gruppen. Wie bei den vier Generationen, die sich zum Polterabend versammelt haben. Ihr Ehemann Werner Mahler hat 1977 ein Jahr lang das Leben im kleinen thüringischen Ort Berka dokumentiert. Entstanden sind unprätentiöse Dorfstudien – eine Bäuerin allein auf dem Feld, eine stämmige Frau in Kittelschürze, die auf Stelzen steht, die abgearbeiteten Hände fest um die Griffe gekrampft, ein stolzes Grinsen im Gesicht.
Doch auch als Modefotografen u.a. für die Zeitschrift »Sibylle« machte sich das Ehepaar Mahler einen Namen, wie auch ihre Kollegin Sibylle Bergemann, eine der international bekanntesten deutschen Fotografinnen überhaupt. Zusammen mit vier weiteren Kollegen gründeten die drei im Wendewinter 1990 die Fotoagentur Ostkreuz, die sich in Anspruch und Organisation an der weltberühmten Fotojournalisten-Agentur Magnum orientiert. Bergemanns Aufnahmen aus den 70ern und 80ern zeigen Ausschnitte aus dem Stadtleben Berlins, daneben entdeckte sie jedoch auch die Langzeitstudie für sich: Neun Jahre lang verfolgte sie mit der Kamera die Entstehung des Marx-Engels-Denkmals, das in Berlin-Mitte aufgestellt wurde. Die Kicken Galerie zeigt daraus nur eine Aufnahme, 1984 entstanden und irritierend hellsichtig: Das Bild der in der Luft schwebenden und (noch) kopflosen Figurengruppe scheint die Wende schon damals vorwegzunehmen.
Arbeiten von Arno Fischer, Evelyn Richter und Roger Melis vervollständigen die kleine, aber feine Ausstellung in der Kicken Galerie – eine Schau, die Lust macht auf mehr solcher Fotografien. Im winzigen 2. Showroom in der Toreinfahrt sind Fotos des Modefotografen F.C. Gundlach ausgestellt, als Ergänzung zur großen Werkschau im Martin Gropius Bau.
»East Side Stories« sind noch bis zum 17. April in der Galerie Kicken Berlin zu sehen, geöffnet Di.-Sa. 14-18 Uhr; Linienstr. 155, Berlin-Mitte. Infos im Internet unter: www.kicken-gallery.com
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