M – eine Stadt kennt ihren Herrn
Im afghanischen Urusgan ist die Polizei machtlos gegen »die Polizei«
Derzeit gibt es auf dem Papier 82 000 afghanische Polizisten. Doch die UNO schätzte im Dezember 2008, dass nur 35 000 tatsächlich im Dienst waren. Jährlich verliert die ANP 20 Prozent ihres Personals. Täglich werden sechs bis zehn Polizisten getötet, viele desertieren. Vor allem aber stehen der Reform diverse, von westlichen Regierungen bezahlte Parallel- und Hilfspolizeitruppen im Wege.
Der Preisringer und sein Schützling
Wo kurz vor dem Gouverneurssitz in Tarinkot die Hauptstraße nach rechts abbiegt, steht ein Toyota-Pritschenwagen mitten auf der Fahrbahn. Ein paar seiner Insassen sind in das öffentliche Badehaus linkerhand gegangen, ein paar andere shoppen in den umliegenden Kramläden. Schon stauen sich die ersten Fahrzeuge.
Hinten auf den beiden Pritschen des Pick-up hängen ein paar wilde Gesellen herum. Sie tragen paschtunische Stammeskleidung – weite Hosen und übers Knie reichende Hemden – sowie Kalaschnikows. Um den Kopf geschlungene Tücher, Westen in Tarnfarben und eng anliegende Sonnenbrillen, Billigimitate internationaler Nobelmarken, die man inzwischen selbst hier kaufen kann, vervollständigen die Tracht.
Auch ein dunkelgrünes Polizeiauto mit korrekt Uniformierten steht in dem Stau. Zwei Polizisten steigen aus, fordern zum Weiterfahren auf. Der Fahrer des Pritschenwagens, der auf einer Zigarette kaut, schaut wortlos durch sie hindurch. »Matiullahs Leute«, sagt ein Polizist, als er resigniert zurück zu seinem Fahrzeug trottet.
Matiullah ist der stille Herrscher von Tarinkot. »M« nennen ihn die in der Provinz stationierten Niederländer, Australier und US-Special Forces halb militärisch knapp, halb ehrfürchtig. Mächtig wurde der knapp 40-Jährige im Windschatten seines Onkels, der auch meist unter einer Abkürzung läuft: JMK. Mit vollem Namen heißt es Jan Muhammad Khan. Der Analphabet war vom Preisringer und Schulaufseher zum Provinzgouverneur aufgestiegen. Dabei half ihm, dass ihn der Vater des derzeitigen Präsidenten unter seine Fittiche nahm und – so erzählt man in Tarinkot – seine Söhne einschwor, JMK als zweiten Vater zu betrachten. Abdul Ahad Karsai wurde 1999 von Taliban ermordet.
Im März 2006 setzte sein Sohn Hamid Karsai, der Präsident, JMK auf Druck der Niederländer ab, da er »auf beiden Seiten spielte«. Im Klartext hieß das: JMK hatte seine Finger im Drogengeschäft, besteuerte die Opiumbauern nach Anbaufläche und unterhielt ein paar »persönliche Talibangruppen«, die Gegner aus dem Weg räumten. Ein politisches Programm verfolgt er nicht. JMK ist nur an Macht interessiert, um daraus Geld zu machen. Dazu braucht er heute Tarinkot nicht mehr. Sein Haupteinkommen stammt inzwischen aus einer Sicherheitsfirma in Kabul, deren Hauptaktionär ein Karsai-Bruder ist. Er kümmert sich mittlerweile meist um seine Immobilien in Kandahar, Kabul und Dubai. Das öffnete Tarinkot für seinen Schützling »M«.
Wachschutz-Handwerk mit goldenem Boden
Tarinkot heißt »Goldene Siedlung« und ist die Hauptstadt der Provinz Urusgan im Süden Afghanistans. Aber in diesem Nest glänzt nichts außer den mit Wasser besprengten Bergen von Granatäpfeln und den orangen Riesenpostern einer einheimischen Mobiltelefonkette. Seine Hauptstraße ist die einzige asphaltierte in der Provinz, das Krankenhaus das einzige moderne Gebäude. Sonst gibt es nur ein- und zweistöckige Lehmziegelbauten.
Urusgan, nach Fläche und Bevölkerung ungefähr halb so groß wie das Land Brandenburg, ist eine unbedeutende Provinz. Sie liegt abseits der großen Ringstraße Kabul-Kandahar-Herat, mit der sie nur eine 180 Kilometer lange Stichstraße verbindet. Aber Mulla Muhammad Omar, der Anführer der Taliban, wurde hier geboren, und auch die Familie Karsai stammt ursprünglich aus Urusgan.
So ist die Gegend von symbolischem Wert für beide Seiten. Die Taliban, so heißt es, nutzen Urusgan als Rückzugsgebiet. In Gisab, im Norden, sollen hunderte Kämpfer überwintern, darunter Araber, Tschetschenen und Pakistaner. Aber so genau weiß das niemand. In Gisab gibt es seit Jahren schon keine Regierung mehr. Die kontrolliert in Urusgan nur die drei wichtigsten Basare, darunter Tarinkot, sowie die Straßen dazwischen. Tagsüber. »Wenn Matiullah nicht wäre, würden die Taliban hier morgen einrücken«, sagt ein Mitarbeiter der Provinzverwaltung hinter vorgehaltener Hand.
Die Nicht-Polizei von Urusgan
Als in Tarinkot noch JMK herrschte, war Matiullah Kommandeur der Autobahnpolizei (AHP) in Urusgan. Sie hatte die wichtigsten Verkehrswege freizuhalten. Eigentlich gibt es nur einen, die Stichstraße ins Regionalzentrum Kandahar. Doch Mitte 2006 wurde die AHP wegen notorischen Banditentums aufgelöst.
Für Matiullah war das kein Problem. Geschützt von seinen Kabuler Schutzherren, behielt er Waffen, Fahrzeuge und Mannschaften und verließ auch seinen stacheldrahtbewehrten Stützpunkt an der nördlichen Ausfallstraße der Stadt nicht. Bewohner Tarinkots sind überrascht, wenn sie hören, dass es die Autobahnpolizei offiziell gar nicht mehr gibt. Inzwischen hat »M« auch durchgesetzt, dass er und 500 seiner Leute wieder auf die Gehaltsliste der offiziellen, nun zu reformierenden Nationalpolizei gesetzt wurden. Sie stellen heute ein Viertel der Urusganer Polizei.
Die Zeit nach der offiziellen Auflösung seiner Truppe hat er locker überbrückt. Er vermietete seine 2000 Leute an die örtlichen NATO-Kräfte, die ja ihre Stützpunkte weiter versorgen mussten, und bezahlte sie privat. Jeder bekommt 220 Dollar monatlich »für seine Loyalität«, wie er sagt; Polizisten erhalten 140 bis 180 Dollar. Hunderte Lkw legen einmal in der Woche – Donnerstag ist Matiullah-Tag – den gefährlichen Weg von Kandahar nach Tarinkot zurück. Matiullah kassiert bis zu 2500 Dollar pro Fahrzeug. Natürlich zahlen die NATO-Kommandeure nicht direkt, aber die »Sicherheitspauschale« ist im Preis inbegriffen und wird von den Lkw-Besitzern an die Milizen durchgereicht. Nicht jeder Überfall auf die Konvois geht auf das Konto der Taliban. Matiullah, so munkelt man im Basar von Tarinkot, organisiert insgeheim manchen Angriff – um seinen Auftraggebern klarzumachen, dass er unersetzlich ist.
Aus den Einnahmen rekrutiert er neue Leute und kauft Fahrzeuge, die er wieder an die NATO vermietet. Auch das Straßenbauprojekt nach Gisab bewachen seine Leute. Und vermutlich werden sie auch gegen die Aufständischen eingesetzt – so wie in Kandahar, wo die Privatmiliz des Präsidentenbruders Ahmad Wali Karsai für die CIA Aufträge erledigt, wie die »New York Times« jüngst enthüllte. Das Wachschutzgeschäft boomt.
Tarinkot – London: Lichtjahre entfernt
Dem graubärtigen Abdul Sattar – das ist nicht sein richtiger Name, denn er ist hoher Polizeioffizier in Urusgan – will das alles nicht in den Kopf gehen. »Wenn wir nur ein Fünftel dessen bekämen, was an Matiullah geht, könnten wir gepanzerte Autos kaufen und die Straße nach Kandahar selbst schützen.« Und die jungen Leute rekrutieren, die jetzt lieber dessen Miliz beitreten.
Ob sein Wort bis nach London dringt, ist fraglich. Die USA erwägen derzeit, ob sie noch stärker mit »lokalen Machthabern« auf subnationaler Ebene kooperieren und sie auch direkt bezahlen sollen, solange die Karsai-Regierung korrupt ist. Dabei wird übersehen, dass Leute wie Matiullah Teil des Systems Karsai sind.
Gleichzeitig symbolisiert Matiullahs Miliz einen der Grundwidersprüche westlicher Politik in Afghanistan: Statt staatliche Institutionen wie die Polizeistrukturen zu stärken, werden illegale Parallelstrukturen geschaffen und gefördert. Kurzfristigem Nutzen – wie dem sicheren Zugang nach Tarinkot – werden langfristige Ziele geopfert.
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