Das Sterbejahrzehnt des Rock 'n' Roll
Warum sich der Niedergang der Rockmusik fortsetzt und sie in der alten Form auch nicht mehr gebraucht wird
Der Niedergang des real existierenden Kapitalismus geschieht nicht mit einem Knall, sondern durch unumkehrbare Verschlechterung der Lebensverhältnisse trotz Produktivitätssteigerungen und Revolutionierung der Produktpalette. Diese Finalkrise zeigt sich auch in einem Segment des kulturellen Überbaus der Bewusstseinsindustrie dieses Systems: in der Rockmusik, die seit den 1950er Jahren Moden und Verhaltensweisen transportiert hat und die, in der richtigen Dosis und Lautstärke angewandt, sogar so etwas wie ein Glücksversprechen enthält. Seit längerer Zeit kann man beobachten, wie alle Stricke reißen, wenn es um die Vermittlung zeitgenössischer Rockmusik mit ihrem Lebensgefühl geht, die letztlich zu einem Kaufakt führen soll.
Um zu demonstrieren, warum das nicht mehr so recht klappen will, kann man praktisch alle Medien heranziehen: Am schlimmsten und seit Jahrzehnten schon gleich katastrophal die Radiolandschaft. Radio ist hierzulande zu einer Recyclingstation für abgenuddelte Hits der 80er und 90er verkommen, ein gnadenlos auf Durchhörbarkeit getrimmtes Betäubungsmittel. Speziellere Musikformate mit anspruchsvolleren Liedern werden in die Abend- und Nachtstunden verbannt – und immer öfter schlicht ignoriert.
Dasselbe Bild bieten landauf, landab die meisten Diskotheken, die mit immer denselben alten Liedern nur noch gähnende Langeweile erzeugen. Die DJs dudeln jahrelang ohne Gnade ihre Evergreens, ohne Mut zum Experiment. Das Neueste und Beste ist kein Maßstab mehr, wird nicht mehr vermittelt, obwohl genügend Material da wäre, wenn die DJs nur Zeit und Willen hätten, es zu hören. Dazu kommt: In der Rock-Disco – falls es überhaupt noch etwas gibt, das diesen Namen verdient – treffen sich auch keine Szenen mehr, die hier freizeitmäßig einem rebellischen Außenseitertum frönen, das der Rock 'n' Roll vorgibt.
Flower-Power war vorgestern, Punk war gestern, selbst Mutti trägt lila Haare. Jetzt ist mangels Jugendbewegung zum ersten Mal ein ganzes Jahrzehnt vergangen, ohne dass ein neuer musikalischer Trend entstanden wäre, der sich gewinnbringend vermarkten ließe.
Auch für die Zukunft sind die Außenseiter, die dann doch verwertbare Massenkompabilität schaffen, nicht gefragt. Jetzt gilt: »Dabeisein ist alles«, einer imaginären »Mitte« zustreben, eine »Chance« nutzen, den Fokus auf bedingungslose Angepasstheit legen. Insbesondere diverse Tageszeitungen, die aus Rationalisierungsgründen seit über 15 Jahren Jugendmusikseiten streichen, neu formatieren, layouten, bringen neben Schminken und Klamottenauswahl immer mehr Verhaltensregeln und Lebensberatung ein. So koppelt sich auch die Musik der Newcomerbands zurück: angepasste Leisetreterei statt lärmender Ausschweifung, Musik, die wie Rock klingt, aber einfach nicht rockt, mehr Mode statt schwitzender nackter Oberkörper. Der »Star« wirkt wie eine Witzfigur, nicht wie ein Identifikationsobjekt für eine unangepasste Lebensplanung. Oder wie im Falle eines Pete Doherty eher wie ein bemitleidenswerter Suchtkranker denn wie ein musikalischer Innovator.
Bleiben noch die alten Recken von damals, die vor 30 Jahren ein neues Lebensgefühl definierten: Sie sind müde und abgenutzt und tauschen ihren einst exzessiven Rock 'n' Roll-Lifestyle gerne gegen eine Tasse grünen Tee nach Konzertende ein. Damit sind wir am Ende der Pyramide, bei den Altrockern, angelangt. Schon heute sind die Zeitungsseiten des Öfteren voll mit Musikern, die zu ihrer Zeit für die Rockmusik einen wirklichen künstlerischen Wert geschaffen und Breitenwirkung erlangt haben, die echte Umsätze machten und die viel zu früh gestorben sind. In den nächsten zehn Jahren werden sich noch etliche zum Sterben niederlegen, und niemand wird ihre Fußstapfen ausfüllen können. Das »wilde Leben« gibt es dann höchstens noch als DVD zu kaufen oder auf dem PC als Rollenspiel nachzumachen.
Für das nächste Jahrzehnt ist also kein einziger Sektor noch in Funktion, der den Niedergang der Rockmusik aufhalten könnte. Außerdem: Wen interessiert das denn überhaupt? Wofür soll ein Festhalten am Althergebrachten gut sein? Die neue, härtere Produktionsstruktur kommt auch ohne Glücksversprechen aus. Sie braucht keinen, der aus der Reihe tanzt, geschweige denn, in Liedern Entwürfe für ein anderes – vielleicht besseres – Leben aufzeigt.
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