Piraten des Augenblicks

Richard David Precht: Eine zärtliche Liebeserklärung an Ostberlin

  • Michaela Karl
  • Lesedauer: 3 Min.

Lange bevor Richard David Precht mit »Wer bin ich und wenn ja wie viele?« die Bestsellerlisten stürmte, war er schon ein wunderbarer, von Kritik und Publikum gleichermaßen vernachlässigter Romancier. Der Münchener Goldmann Verlag hat nun Prechts vergriffenen Roman »Die Kosmonauten« in einer Neuauflage herausgebracht und weckt damit Erinnerungen an eine Zeit, in der ein ganzes Land glaubte, sich neu erfinden zu können. Als die Zukunft eine Welt voller Morgen war und viele alles und nichts bereuten.

In seiner Geschichte von Lachen und Solidarität erzählt Precht nicht nur von Georg und Rosalie, die sich in einer Kölner Straßenbahn ineinander verlieben und unter Zurücklassung ihres bisherigen Lebens dem Treck in den wilden Osten Berlins folgen, sondern auch von Freundschaft und Idealen, dem richtigen Moment und der Erkenntnis, dass die Zukunft einmal jetzt und hier war.

Ostberlin nach dem Mauerfall ist der Kosmos durch den seine Figuren schweben, während hoch oben über ihnen Sergej Krikaljow, der letzte Kosmonaut der untergehenden Sowjetunion, einsam seine Bahnen zieht. Es ist ein leiser, wohltuend entschleunigter Roman, voll feinem Humor und exakter Beobachtung, dessen eigentlicher Star eine Stadt ist.

Georg und Rosalie erkunden diese Stadt wie einen geheimnisvollen noch unentdeckten Planeten und erleben in diesem Mikrokosmos »Weltgeschichte, Weltfrieden und Weltschmerz«. Prechts Buch ist eine Reise zurück in eine Zeit als Hausmeister noch Wartburg fuhren und man abends ins Kino Kosmos in der Karl-Marx-Allee ging. Als in Mitte noch Kohlegeruch in der Luft hing, der Masterplan für die Museumsinsel noch außer Sichtweite und das Tacheles einfach eine besetzte Kaufhausruine in der Oranienburger Straße war. Als junge Westdeutsche entdeckergleich das unerschlossene Archipel Ostberlin besiedelten, lange bevor die Investoren kamen und die Ureinwohner im Rahmen dieser Kolonisation ins Exil getrieben wurden. Die melancholische Liebesgeschichte von Georg und Rosalie ist ein Abgesang an diese Zeit, an diesen Ort der Improvisation. In metaphernreicher Sprache schildert Precht, wie nicht nur die Zeiten kälter werden, sondern auch die Liebe von Georg und Rosalie. Auf Antennen kauernde zerlumpte Bussarde künden wie im Western von einer untergehenden Welt – »Once upon a time in the East«.

Nach unbeschwerten Monaten mit neuen Freunden und Würfelschnecken kommt der Tag, an dem Georg und Rosalie nicht mehr wissen, wo sie hingehen sollen. An dem sie dringend eine zusätzliche Himmelsrichtung benötigen würden. Die Pionierzeit geht zu Ende, Realismus macht sich in ihnen breit. Rosalie fängt in einer Werbeagentur an, die einen Slogan für das neue Berlin entwerfen soll. Ihre Blickrichtung ändert sich gen Westen. Der ehrgeizlose Georg wird Hilfstierpfleger im Tierpark in Friedrichsfelde, der Precht als Symbol für die untergegangene DDR dient. Die spektakuläre, jedoch tragisch endende Befreiungsaktion einer weißen Oryx Antilope wird zu einem Spiegelbild des Mauerfalls.

Die vierte Person Singular übernimmt nun langsam aber unaufhaltsam die Macht in der Stadt: aus »Wir« wird »Ich« und schließlich »Man«. Die Liebe zerbricht, die Wirklichkeit wird neu bestimmt. Zurück bleibt die Erkenntnis, dass nicht jeder Liebesschwur eine Einladung ist, für das ganze restliche Leben mit dabei zu sein.

Prechts Roman, der persönliche Geschichte, Weltgeschichte und Naturgeschichte kunstvoll miteinander verknüpft, ist ein zärtlicher Griff in die Seele einer ganzen Generation. Seine Figuren sind Archetypen und breiten das ganze Panorama der üblichen Verdächtigen vor dem Leser aus: Politaktivisten, Künstler, Kriegsgewinnler, liebenswerte Lebensverweigerer und Blockwarte. Auch an ihnen werden die Veränderungen nicht spurlos vorübergehen. Als Sergej Krikaljow die Erde wieder erreicht, ist nicht nur die Sowjetunion Geschichte, sondern auch die Liebe zwischen Georg und Rosalie. Ihnen bleibt nur, gemeinsam mit dem Leser dem Flüchtigen nachzutrauern, »einer Handvoll eingefangenem Sternenstaub, einem bisschen Niederschlag des Regenbogens den sie umklammert gehalten hatten«.

Richard David Precht: Die Kosmonauten. Roman. Goldmann Taschenbuch. 416 S., brosch., 9,95 €.

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