Der Letzte räumt die Erde auf

Berlinale Keynotes: Das Kino von morgen. Film ist Käse, nebenan gibt's Käse. Alles Käse?

  • Marion Pietrzok
  • Lesedauer: 4 Min.

Zum dritten Mal seit 2007 eine Ladung Theorie: die sogenannten Keynotes. Thema 2010: »Kino der Zukunft«. Mit dem renommierteren, weltberühmten Architekten Sir Norman Forster und weiterer braintrust-schwerer Prominenz: dem französischen Produzenten, Verleiher und Kinobesitzer Marin Karmitz (MK2, Paris), dem Wiener Architekten Wolf D. Prix vom Büro Coop Himmelb(l)au, der Trendforscherin Li Edelkoort, dem Architekturkritiker und Kurator der Venediger Architekturbiennale 2002 Deyan Sudjic sowie dem Filmemacher Heinz Emigholz, der überdies, nach einer Retrospektive 2007/08, während der Berlinale mit einer Installation aus sieben seiner Filme im Hamburger Bahnhof – Museum der Gegenwart in Berlin präsent ist.

Sir Norman Forster warf in seinem lebhaften, anschaulichen Vortrag einen Blick – nein, nicht in die Zukunft, sondern zurück ins vorige Jahrhundert, in das Goldene Zeitalter der Kinos mit dessen prächtigen Palästen. Es waren einst glamouröse Gebäude an signifikanten Orten, an Hauptstraßen und öffentlichen Plätzen, die innovativem Design von Automobilen und Eisenbahnzügen in nichts nachstanden. Diese große Ära von Architektur und Design ist vorbei, stellte Forster fest, und damit auch die Art Kino, wie wir sie gewohnt sind. Das Kino als gebaute Hülle, mit Filmerlebnis in Gemeinschaft sterbe zugunsten des individuellen Konsums per iPod oder Flugzeug-Movie. Film im Flugzeug, das sei das größte Potenzial.

Die Grundfrage – das Kinosterben in den Zentren, der Rückgang der Besucherzahlen – berührte dieser Gedanke jedoch nicht. Und andererseits: Im statistischen Vergleich Westeuropas mit aufstrebenden Nationen wie China etwa machte er eine andere Rechnung auf: Die zunehmende Verstädterung weltweit befördere auch eine Urbanisierung mit Kinos.

Wie man ein städtischen Problembezirk mittels Kulturangebot re-sozialisieren kann, erläuterte Marin Karmitz. Es habe allerdings Jahre gebraucht, bis dieser keine »dunkle Ecke« mehr, sondern ein »Platz des Lichts« geworden sei. Der Besitzer von 10 Programmkinos mit 58 Leinwänden plädierte überdies dafür, Barrieren zwischen Kunstgattungen einzureißen, Kinos etwa für Konzerte zu öffnen, mehr in städtisches Leben einzubeziehen. Sein Muster sieht etwa so aus: Siehst du im Kino Käse, kannst du im Nebenraum solchen kaufen und im übernächsten Kino-Kabinett das Käse-Kochbuch dazu und im Kino-Shop gegenüber das ultimative Käse-Video.

Apropos, »Avatar«. 3D-Projektionen gehören nach Ansicht von Wolf D. Prix nicht die Zukunft. Der Inhalt eines Filmes sei nach zwei Wochen vergessen, weil er, anders als der per 2D, nicht ins Langzeitgedächtnis eingehe. Und alles Technische sei beim Kino wie in Konzerthallen und Theatern ohnehin ausgereizt. Die Zukunft gehöre solchen Bauten wie dem von Coop Himmelb(l)au entworfenen Ufa Cinema Center in Dresden. Es sei der Gestalt nach quasi ein dreidimensionaler Videoclip. Architektur als Lockmittel. In Südkorea entsteht derzeit ein Komplex von sechs Kinos für 8000 Menschen, dessen Simulationsfilm seinen Vortrag begleitete: Der kegeligen Form eines Berges nachempfunden, soll es im 2012 fertiggestellten Busan Cinema Center sogar Freilichttheater geben, deren Himmel nichts als flimmernde Kino-Leinwand sind. Eine hyperfuturistische Vision leuchtete da vom Keynote-Podium, die, was die potenziellen Zuschauer betrifft, an die Weltraumwohnlandschaft gelangweilter, müßiggängerischer und manipulierter Ex-Erdenbewohner im Animationsfilm »Wall.E – Der Letzte räumt die Erde auf« erinnert. Und ebenso: Erinnerung an die gefährliche Gigantomanie eines Albert Speer.

Ein Architekt kann gewiss nicht anders, als an die Priorität seines Gewerbes zu glauben: »Das Medium ist die Message.« Also: Das architektonische Gebilde ist der Fliegenleimstreifen fürs Publikum. Filmische Inhalte und Mittel sind demnach sekundär? Gemessen an Erwartungen, die man in die Zukunftswerkstatt Berlinale setzt, hört sich solch ein unwidersprochenes Statement reaktionär an.

Kino als politischen Ort – weil ja Filme per se politisch sind und die Debatten über sie potenziell politischer Sprengstoff – zu erhalten, umfasst mehr. Ein Zukunftsdiskurs muss konsequent vom Zuschauer aus geführt werden und zuförderst die elementaren Fragen beinhalten: Wer sind die Kinogänger? Das meint nicht nur: An wen richtet sich der Film? Sondern auch: Wer kann sich Kino-Eintritt leisten? Was ist zu tun, dass er erschwinglich wird? Zweitens: Welche Lehre wird aus der Erfahrung der aggressiven Herrschaft von Multiplexen mit ihrer anonymen »Fastfoodisation« gezogen? In Dresden beispielsweise sind in Folge der Verdrängung durch das Ufa Cinema Center zahlreiche Kiezkinos gestorben, die, solange sie nicht durch vorsätzlichen Mord durch die Kommerzmaschinen von der Bildfläche verschwunden waren, durchaus der gewünschte soziologische Funktionsort waren. Und die dritte grundsätzliche Problemstellung fürs Kino überhaupt – sie wurde bei den Keynotes lediglich von Filmemacher Emigholz als Tatsache benannt und hätte diskutiert werden sollen: die exzessive Nutzung von Film im Internet. Trendforscherin Edelkoort vermutet, dass Internet und Kino gleichermaßen attraktiv bleiben werden. Nur, wie kann Kino mitziehen, wenn das Internet quasi flächendeckend ist, Kinos mit vielfältigem Programm aber überhaupt nur in wenigen Metropolen existieren? – Fazit nach dieser Ideen-Präsentation: Die Vordenker sollten erst einmal nachdenken.

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