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Gute Gedanken
Um den Fortgang der Weltrevolution Richtung Sozialismus/Kommunismus machen sich viele gütige Menschen gute Gedanken. Leute, die dafür Zeit und Muße aufbrachten, nannte man früher »fortschrittliche und friedliebende Menschen in aller Welt«. Auf der anderen Seit gab es unfriedliche, unfortschrittliche Gestalten wie Dregger und Pinochet. Wie viele – das wusste man nicht genau. Aber auf keinen Fall stand es halbe-halbe, sondern viel günstiger!
Schon deshalb, weil es eine dritte Gruppe gab, die im Zweifelsfalle für Fortschritt und Frieden zur Verfügung stünde – die »Menschen guten Willens«. Diese Leute hatten es nicht leicht, waren »unsichere Kantonisten« bzw. Christen und von allerlei individualistischen Zweifeln angekränkelt. Guten Willen hatten sie zwar – aber an keinem Parteilehrjahr teilgenommen. Ihr Hauptvertreter in der DDR war Manfred von Ardenne.
Zu den bisher ungelösten Rätseln des Klassenkampfes gehört das Phänomen, wieso die Fortschrittlichen und Friedliebenden davon überzeugt waren, stets die besseren (klügeren, einfühlsameren, humorvolleren, hübscheren, musikalischeren, kunstverständigeren, sportlicheren) Menschen zu sein, während »auf der andere Seite der Barrikade« die Hässlichen, Bösen und Dummen hockten, die in Gefechtspausen ihren Fußpilz bekämpften und bei Olympiaden regelmäßig verloren.
Heute nun definieren plötzlich Kräfte am Sozialismus herum, von denen es wirklich nicht zu erwarten war. Nein – nicht die LINKE! Die interessiert sich für den Sozialismus eher indirekt, auf eine subtile und vornehme Weise. Die will es lieber erst einmal mit einer »Solidarischen Moderne« probieren. Das hat den Vorteil, dass keiner weiß, was das ist. Deshalb tun Menschen, die mit einer »Solidarischen Moderne« liebäugeln, bestimmt niemandem weh (jemandem wehtun, das ist das Letzte, was wir seit dem Ende des Stalinismus wieder tun wollen!). Eine Umfrage in meinem mäandernden Bekanntenkreis ergab: Unter »Solidarischer Moderne« verstehen die meisten eine Gesellschaft, in der die Gehwege von Glatteis befreit werden und in der auch bei der LINKEN ein ganz anderes Modebewusstsein herrscht als bisher üblich. Es ist sicher nicht ins Blaue hineinvermutet, wenn man sagt, die »Solidarische Moderne« (in einschlägigen Kreisen auch SM genannt) werde binnen kurzer Zeit weltweit die Massen mobilisieren, vor allem die Chinesen, die mit »Lasst tausend Blumen blühen« so was schon mal durch hatten.
Eine solidarische und moderne Führerin ist die hessische Brachialrevolutionärin Andrea Ypsilanti (»Mit de LINKE mach mehr nix«). Seit einigen Tagen macht ihr jedoch Guido Westerwelle ihre Position streitig. Innerhalb von 24 Stunden hat dieser zwei glasklare Definitionen von Sozialismus vorgelegt, die in ihrer Radikalität alles in den Schatten stellen, was seit Lenins »Staat und Revolution« zu diesem Thema gesagt wurde.
»Wenn man sich um die Benachteiligten sorgt«, hat Westerwelle ausgerufen, »und dabei den Ausbeutern und Pfeffersäcken und Spekulanten immer wieder mit dem nackten, kalten Hintern ins Gesicht springt – das ist dann Sozialismus.« Seine zweite These bezog sich auf die so genannte Meinungsfreiheit, vor der er eindringlich warnte: Wenn man nicht mehr über Zahlungen an die Minderbemittelten diskutieren darf – dann ist das Sozialismus, sagte er sinngemäß. Fraglich ist, ob die Weicheier von der »Solidarischen Moderne«, für die Meinungsfreiheit wichtiger als Deputat-Schnaps ist, diese Position aushalten.
Aber auch Westerwelle steht unter Druck. Die Kanzlerin selber rückt ihm auf die Pelle. »Sie spielt falsch«, sagten mehrere Leute aus der CSU, Katholiken in der CDU, aus dem Vatikan, der FDP und den Vertriebenenverbänden am Wochenende. Ist sie eine Agentin des Weltsozialismus, eine ostdeutsche Selbstmordattentäterin, ein heimlich friedliebend-fortschrittlicher Mensch?
Erinnert euch meiner Worte: Der Sozialismus kommt plötzlicher, als man denkt! (Dafür ist er dann auch rasch wieder vorbei.)
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