Sieh, das Unheimliche
Die Berlinale war Spiegel der Welt – mit Inseln im Klimawandel
Der Berlinale-Jury-Präsident Werner Herzog sprach vom Klima der Filme. Es gibt ein Binnenklima, das Filme selbst hervorbringen – und ein Außenklima, dem sie ausgesetzt sind. Eine verborgene Dialektik erzeugt hier jenes Geheimnis des Zusammenspiels von Innen und Außen, das einem Film seine überwältigende Kraft gibt. Ohne Faszinosum der Bilder ist Filmkunst nicht denkbar.
Aber welch seltsame Wege geht das Bild dabei, es unterliegt einer verwirrenden Dialektik der Ungleichzeitigkeit. Das hat das Klima der Filme mit den Wetterverhältnissen draußen gemeinsam. Laut Statistik war dies zum Beispiel der derzeitige der wärmste Winter seit langem weltweit. Vielleicht war es deshalb bei uns besonders kalt. So ging es mir auch mit dem Klima der Berlinale-Filme.
Die Massenkultur suggeriert das fröhliche Wir, aber drinnen zitterte das isolierte Ich. Das härtere Klima bringt die schöneren Blumen hervor, sagte Christoph Hein einmal über das Theater der DDR. Ein solch härteres Klima spiegelte sich auch auf der Berlinale, jedoch auf unterschiedliche Weise.
Da gab es die prämierten Waldfilme wie »Bal« aus der Türkei, eine einzige Abwehr der Modernisierungskälte, eine Beschwörung des natürlichen Lebens. Nach der Preisverleihung sprach Regisseur Semih Kaplanoglu zu Journalisten davon, dass in den unberührten Waldgebieten, in denen er seinen Film drehte, ein großes Kraftwerk gebaut werden soll. Der Wald wird zur bedrohten Insel.
Insgeheim hatten viele Berlinalefilme dies geheime Motto: die Insel. Zwei Möglichkeiten birgt sie: Zuflucht vor dem nivellierenden Ansturm der Zeit einerseits und Ort der Abschiebung, also zwangsweisen Festsetzung im Abseits andererseits. Hat man die Wahl?
Einen der einprägsamsten Filme der Berlinale, der im Panorama lief, hat Andreas Kleinert gedreht: »Barriere«. Ein karger Schwarz-Weiß-Film über junge Schauspieler. Ein Casting für eine »Hamlet«-Inszenierung fürs Freilufttheater Oybin. Eine Reise ins Herz der Finsternis, jenes Geheimnis unserer nur scheinbar so transparenten Medienwirklichkeit. Die hantiert mit lauter Gewissheiten, die reine Behauptungen bleiben, weil sie innerhalb des virtuellen Mediums gar nicht überprüfbar sind. Und dann durchbricht eine Gewalttat plötzlich in ganz realer Brutalität die inszenierte Wirklichkeit – ein Mensch stirbt. Und es bleibt völlig unverständlich.
Kleinert bringt damit, dass er verschiedene Temperaturen dieser Wirklichkeit aufeinanderstoßen lässt, das Moment der Fremdheit in unsere lauter falsches Verstehen und eine verlogene Vertraulichkeit suggerierende Gegenwart zurück.
Das Unheimliche kehrt wieder – und dessen offensichtliche Präsenz wirkt wie eine Befreiung. Die Neugewinnung eines verlorenen Raumes unserer menschlichen Existenz. Werner Schroeter, auf der Berlinale für sein Lebenswerk geehrt, hat in »Diese Nacht« die uns verlorengehende Dimension des Phantastischen auch in seinen negativen, verrätselten Möglichkeiten in eine Ästhetik des Schreckens gebracht. Deren Minimalismus wirkt wie eine Insel in der überbunten Mainstream-Opulenz.
Welche Bildsprache brauchen wir? Eine, die die Fülle der Möglichkeiten menschlicher Existenz in einen Ausdruck bringt, der uns aus der Gleichgültigkeit mittlerer Temperaturen herausreißt, Kälte und Hitze wie zum ersten Mal fühlbar macht. Das ist Kunst, weniger ist bloß Unterhaltung.
Wir sahen: Überall unsichtbare Mauern, in einer Atmosphäre der Vielzuvielen. In Oliver Klocks Zeitgeiststück »Das Meese-Prinzip«, derzeit am Berliner Gorki Theater zu sehen, heißt es, man müsse heute schon als Aufpackkraft im Supermarkt mit lauter Bewerbern konkurrieren, die fünf Sprachen sprechen und drei Auslandpraktika vorweisen können. Aufmerksamkeit ist die neue Ware, nach der alles giert – bis in Regionen hinein, in denen das nur noch absurd ist. Eine Droge, die rücksichtslos und einsam macht. Lauter einzelne Atome, traurige Einzelkämpfer um die vielleicht einzige Chance ihres Lebens. Casting ist das Schlüsselwort der Generation Praktikum. Das Drama hierin zu entdecken, gehört zu den Herausforderungen des Gegenwartskinos.
Was war noch an Klimaverwerfungen zu spüren? Die Überhitzung hier führt zur Kältewelle dort, übergroße Trockenheit an einer Stelle bringt die Sintflut zur anderen. Das war die symbolische Grundkonstellation einer Reihe von Filmen – das Nebeneinander von Parallelwelten, die nichts mehr von einander wissen (wollen). In Martin Scorseses »Shutter Island« ebenso wie in Benjamin Heisenbergs »Der Räuber«, Rafi Pitts »Zeit des Zorns« oder in Michael Winterbottoms »The Killer inside me« sahen wir lauter verlorene Seelen. Besonders schockierend in Winterbottoms Innenansicht eines texanischen Polizisten, der in Wirklichkeit ein perverser Serienmörder ist. Lauter Doppelgänger, auseinanderfallende Identitäten – auch das ist ein Zeichen des sozialen und kulturellen Klimawandels weltweit. Der Mensch per Internet pausenlos vernetzt, fällt doch immer häufiger durch die Maschen dieses Netzes. So eng kann es gar nicht geknüpft sein, dass nicht immer wieder etwas hindurchrutscht – ins Freie.
Der nichtvernetzte Mensch bleibt Hoffnungszeichen für die Freiheit des Einzelnen, auch in ihren negativen Möglichkeiten. Diesen Einzelnen, der mit seinen Hoffnungen und Ängsten kämpft, der häufiger zum Verbrecher als zum Helden wird, ihn, der in der Massenkultur nur noch als Spielmarke auftaucht, hat die Berlinale in diesem Jahr ganz erst genommen. Er ist derjenige, der sich dem Klima ungeschützt aussetzt und noch seine minimalsten Schwankungen misst, so wie die beiden auf ihrer arktischen Inselstation in »Kak ya provel etim Letom« von Alexei Popogrebsky.
Film als Kunst, so haben wir in der vergangenen Berlinale-Woche erfahren, ist zur Insel geworden – aber einer bewohnten. Noch.
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