Versunkene Welt
Irfan Orga: »Das Haus am Bosporus«
Als »Das Haus am Bosporus« als »Portrait of a Turkish Familiy« vor fast 60 Jahren bei Gollancz in London erschien, war die Autobiografie von Irfan Orga sofort ein Erfolg. Der 1908 in Istanbul geborene Autor lebte damals seit einiger Zeit in England, war mit einer Irin verheiratet, die ihm beim Verfassen seiner auf Englisch publizierten Bücher behilflich war. So entstand das vielleicht genaueste Sittengemälde der türkischen Bourgeoisie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ihres Abstiegs während des Ersten Weltkrieges und des Umschwungs in der Gesellschaft durch die Gründung der Türkischen Republik nicht in türkischer, sondern in englischer Sprache. Vielleicht ist es deshalb erst jetzt für hiesige Leser entdeckt worden. Man kann von einem Glücksfall sprechen, denn die Geschichte der Familie Orga ist ein kostbares Zeugnis aus der Zeit der Geburt der modernen Türkei.
»Das Haus am Bosporus«, von dem hier die Rede ist, stand hinter der Blauen Moschee, man blickte auf das Marmara-Meer, von dem das Grundstück nur durch eine niedrige Steinmauer getrennt war. Ein damals wie heute privilegierter Platz in der Welt, nur dass dort inzwischen andere Privilegierte wohnen. Aus der Perspektive eines Kindes und Jugendlichen bietet sich ein Bild des Wohlstands, Friedens und der Wohlanständigkeit. Der Leser taucht ein in den beneidenswerten Alltag einer gemäßigt aufgeklärten und an der Schwelle zu modernem Bewusstsein lebenden osmanischen Großfamilie. Drei Generationen leben unter dem weiten Dach dieses Hauses mit Seeblick – eine fast hanseatische gute Ordnung der Dinge unter der Herrschaft des Sultans.
Der Erste Weltkrieg, der die Türkei an der Seite der deutschen und österreichischen Kaiserreiche sieht, bereitet allem ein Ende: Der Vater des Autors – inzwischen Hauptmann der türkischen Armee – stirbt an den Strapazen eines Fußmarsches in die Hölle von Gallipoli. Die Geschäfte hatten schon vorher abrupt aufgehört, das Haus musste aufgegeben werden. Großmutter und Mutter leben fortan unter für sie unwürdigen Verhältnissen in der Stadt, leiden Hunger und Not, erleben die Geburtswehen der Türkischen Republik und den griechisch-türkischen Krieg.
Der Autor gerät als junger Mann eher widerwillig zur türkischen Luftwaffe. Die schickt ihn im Zweiten Weltkrieg nach England zur Ausbildung bei der Royal Air Force, wo er seine spätere Frau kennenlernt. Die bleibt freilich noch viele Jahre mit einem anderen Mann verheiratet. Eine Liaison, die dem Autor bei der türkischen Armeeführung große Schwierigkeiten verursacht, vor denen er nach dem Krieg nach England flieht. Das erfahren wir aus einem langen Nachwort von Irfan Organs Sohn, der weitere Einzelheiten aus dem Familienleben ungeschminkt preisgibt.
Das Buch schwingt souverän zwischen persönlichem Erleben und dem zeitgeschichtlichen Panorama der Umbruchszeit in der Türkei. Der Autor verfügt über eine beiden Aspekten angemessene Sprache, die zwischen Bericht und Erzählung, zwischen Reflexion und Anekdote geschickt wechselt. Dabei behält er stets den Leser im Auge, ist zwar detailverliebt, was ihm ebenso kostbare wie köstliche Einzelheiten diktiert, verliert sich aber nie in Schilderungen, die sein Publikum nicht fesseln.
Irfan Orga: Das Haus am Bosporus Die Geschichte meiner Familie. Aus dem Englischen von Fritz Schneider. Arche Verlag, 512 S., geb., 24,90 €.
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