Trauerspiel, ja?

DT: Gotscheff inszeniert Tschechows »Krankenzimmer Nr. 6«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Arzt
Der Arzt

Es beginnt mit einer unmerklichen Zerstreutheit. Unübersehbar der beiläufige Mangel an Aufmerksamkeit für die beglaubigte Ordnung der Dinge. Die Müdigkeit der anstürmenden Normalität gegenüber wächst. Vom zelebrierten Lebensernst bleibt nur noch ein trauriger Witz.

Und plötzlich sind die Seile gekappt, die da ein Lebensschiff fest mit dem Kai verbanden. Fort schwimmt es ins Freie, lässt alles hinter sich, vor sich nur noch den Untergang. Anton Tschechow skizziert mit seiner Erzählung »Krankenzimmer Nr. 6« ein Endspiel im Beckettschen Sinne – und Dimiter Gotscheff bringt es in Ivan Panteleevs Spielfassung auf die Bühne des Deutschen Theaters Berlin. Wir sehen: eine leere Bühne, ein nihilistisches Tableau, ein Trauerspiel ohne Trauer. Wir haben nun zwei Stunden lang teil an einer Phänomenologie des Zweifels, der die Kraft zur Gesundung fehlt. Die halbherzige Lebenskorrektur aber führt ins Abseits. Erst zu den Geisteskranken, dann in einen ganz und gar undramatischen Tod. Eine Auslöschung. Fast schon ein freiwilliges Erlöschen, der unaufhaltsame Selbstmord eines am Leben wie am Sterben Desinteressierten.

Der Anstaltsarzt Andrej Ragin ist ein Untergeher. Das wissen wir bereits, als wir ihn zum ersten Mal sehen und hören. Er gehört schon nicht mehr dazu, geht umher wie sein eigenes Gespenst. Am Mittwoch ist ihm eine Patientin gestorben, vielleicht war es auch ein anderer Tag. Er vergisst alles. Früher einmal, da habe er etwas gewusst, jetzt weiß er nichts mehr. Medizin? Keine Ahnung. Er kann niemandem helfen, am wenigsten sich selbst. Gotscheff inszeniert diese Chronik des Sich-Abhandenkommens wie einen Totentanz. Die teuflische Dialektik liegt darin, dass hier Selbsterkenntnis und Selbstvernichtung untrennbar miteinander gekoppelt sind.

Der Hauptakteur ist das Bühnenbild von Katrin Brack. Die mehrfache Bühnenbildnerin des Jahres zeichnet aus, dass ihre Bühnenraumideen simpel scheinen, aber gerade deswegen die Kraft besitzen, ganze Aufführungen zu prägen. Sie geben die Atmosphäre vor, die Tonart, in der gespielt wird, stecken das Spielfeld ab. Der aufreizend weiße halbrunde Bühnenraum, der an Trakls »Psalm« denken lässt – »Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben« – wirkt bereits wie ein Todessymbol. Und wie ein schwarzer Schwarm Krähen senken sich dann sehr bald die Beleuchtungsbrücken herab, daran große vollautomatische Scheinwerfer. Wie künstliche Augen blicken sie um sich, mit einem leisen Surren drehen sie sich hin und her, manchmal auch ganz um ihre Achse.

Alles eine Frage der Beleuchtung? Oder der Überwachung? Ob man für gesund oder verrückt gehalten wird, als ein vorbildlicher Staatsbürger oder eine wegzusperrende öffentliche Gefahr gilt – das erkunden die sich neugierig umschauenden Scheinwerferaugen. Oder sind es Flakscheinwerfer? Wer einmal ins Zielkreuz gerät, hat kaum mehr eine Chance. Doch die Insassen des Krankenzimmers Nr. 6 kriechen sogar unter die überhellen Lichtkegel, sprechen so eindringlich in sie hinein, als beteten sie. So ist das wohl, wenn jemand aus dem Dunkel heraus ins Licht drängt: Es wirkt unheimlich.

Was wir hier sehen, ist ein Laborversuch auf offener Bühne. Über den Zufall, der anscheinend bestimmt, wer in der Gesellschaft wohin sortiert wird. Oben oder unten, Mitte oder Rand. Ist man einmal etikettiert und abgelegt, kommt man da nie mehr heraus. Wenn es Krankenhäuser gibt und Gefängnisse, muss auch jemand in ihnen sein. So einfach. Das ist der Terror der Institutionen, der die einen zu Wächtern macht, die anderen zu Bewachten. Ohne einander sind sie nicht. Da wird aus dem anfänglichen Zufall plötzlich eine unsichtbare Kette. Wer zu fliehen versucht, den bringt man wieder zurück – an »seinen« Platz. Aber der Arzt glaubt nicht mehr an die Vernunft der herrschenden Ordnung. Die Verrückten im Krankenzimmer Nr. 6 scheinen ihm auf einmal gar nicht mehr verrückt. Verrückt ist eher ein System, das sie ein für alle Mal für verrückt erklären kann – ohne sich dann mehr um die Richtigkeit dieser Einordnung zu kümmern.

Von Tschechows Erzählung gibt es eine eindrucksvolle Lesung mit Dieter Mann, erhältlich als Hörbuch im Eulenspiegel Verlag, Hartmut Lange hat ebenfalls eine dramatisierte Fassung vorgelegt – doch die bulgarische Achse dieser Inszenierung, Gotscheff-Panteleev-Finzi gibt dem Abend einen sehr speziellen fatalistischen Touch: halb Balkan, halb Heiner Müller. Und das, obwohl auf einer Probe zwei Tage vor der Premiere nicht viel mehr zu sehen war als ein Torso. Und ein Samuel Finzi, der an seiner Rolle als Arzt Ragin zu scheitern drohte. Dieser wunderbare Schauspieler, der wie wenige andere aus dem Körper heraus agiert, fühlte sich hier allein mit der Sprache sichtlich unwohl. Aber Gotscheff vertraut auf das Zusammenspiel des Duos Samuel Finzi/ Wolfram Koch. Zu Recht, denn bei der Premiere war ein Energiesprung des ganzen Ensembles zu erleben – und ein Samuel Finzi, der einer ihm Unbehagen bereitenden Rolle am Ende doch standhielt.

Es ist einer dieser kühlen, klug sezierenden Abende, mit einer jedesmal neu bei Gotscheff verblüffenden tableauartigen Raumaufteilung. Seine Seele trägt der an Heiner Müller geschulte Regisseur nicht vor sich her. Das Schaustück ist immer auch ein Denkstück, das auf die Klugheit der Schauspieler baut. Und sie überzeugen jeder für sich als Teil eines Gewebes aus Bewegung, Stillstand und Sprache. Formal zugespitzt, bis die Worte anders anfangen zu atmen. Das ist angewandte Textdeutung mit den Mitteln des Theaters.

Margit Bendokat macht jede Nebenrolle zum Ereignis, hier jenen ominösen Knecht fürs Grobe und Sentimentale, im pittoresken Schulmädchenkleid, in gefährlicher Einfalt Volkslieder singend. Die schrill entgleitende Stimme der Normalität bricht in Regionen ein, da es wirklich wahnsinnig wird. Die Krankenzimmerinsassen: Almut Zilcher, gewohnt schrill, hier zugleich mit Selbstdisziplin. Katrin Wichmann zeigt eindrucksvoll-schroff eine unsentimental Liebende, auf den Punkt genau agieren auch Andreas Döhler und Harald Baumgartner. Weggesperrte Verzweiflung, die sich schließlich gegen sich selbst wendet.

In dieser Menagerie, die hier immer auch das Theater selbst meint, ist Wolfram Koch als Iwan Gromow allzeit das gefährlichste Tier. Ein eingesperrter und für verrückt erklärter Mensch, dessentwegen der Arzt alles aufgibt: seinen Stand, seinen Beruf, sein bisheriges Leben. Die Gesellschaft verzeiht ihm nicht, dass er ausgerechnet dessen Nähe sucht, diesen jungen Mann für wissender hält als all das sonstige triste Kleinstadtpersonal. So kommt man schließlich doch noch gemeinsam zur Vernunft: jedoch nur innerhalb der Anstaltsmauern, deren Tore geschlossen bleiben.

Nächste Vorstellung: 5.3.

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