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Es gibt kein ehrbares Motiv für Gewaltstraftaten

Berlins Innensenator Ehrhart Körting (SPD) über linksradikale Militanz, den bevorstehenden 1. Mai und Gentrifizierung

  • Lesedauer: 10 Min.
Angezündete Autos, Anschläge mit explosiven Gaskartuschen auf Bürogebäude oder Jobcenter, gewalttätige Auseinandersetzungen mit Polizisten sowie Angriffe auf tatsächliche und vermeintliche Neonazis – die Hauptstadt hat im bundesweiten Vergleich eine sehr aktive linksradikale Szene. Was steckt dahinter? Und wie soll man damit umgehen? Darüber sprachen mit Dr. Ehrhart Körting, Berlins Senator für Inneres und Sport, Rainer Funke und Martin Kröger.
Dr. Ehrhart Körting arbeitete nach dem Jurastudium als Staatsanwalt, Richter und Anwalt. 1975 wurde er Baustadtrat in Berlin-Charlottenburg. Der SPD gehört er seit 1971 an. Von 1992 bis 1997 war er Vizepräsident des Berliner Verfassungsgerichtshofes, bis 1999 Justizsenator, seit Juni 2001 ist der heute 67-Jährige Senator für Inneres.
Dr. Ehrhart Körting arbeitete nach dem Jurastudium als Staatsanwalt, Richter und Anwalt. 1975 wurde er Baustadtrat in Berlin-Charlottenburg. Der SPD gehört er seit 1971 an. Von 1992 bis 1997 war er Vizepräsident des Berliner Verfassungsgerichtshofes, bis 1999 Justizsenator, seit Juni 2001 ist der heute 67-Jährige Senator für Inneres.

ND: Allem Anschein nach ist die Zahl angezündeter Autos in Berlin deutlich zurückgegangen. Haben Sie den tatverdächtigen Teil der linksradikalen Szene mit Ihrer Charakterisierung als »rotlackierte Faschisten« verschreckt?
Körting: Derartige Taten haben immer auch einen zeitbezogen äußeren Anlass. Den Anstieg gab es seit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm. Die Berichterstattung darüber hat Trittbrettfahrer ermuntert. Die Gründe für die Abnahme mögen damit zusammenhängen, dass derzeit in der linksradikalen Szene über Aktionsformen sowie deren Sinn und Zweck debattiert wird. Wenn das zur Einsicht führt, dass es andere Möglichkeiten des Protestes gibt, wäre das ein Fortschritt.

Wen meinten Sie mit den »Rotlackierten«, auch die Linkspartei?
Mit der Linkspartei hat das nichts zu tun. Zwischen mir und der Fraktion der LINKEN im Abgeordnetenhaus gibt es keine unterschiedlichen Ansichten zu politischer Gewalt. Nein, dieses Wort von rotlackierten Faschisten ist wie alle historischen Vergleiche immer schwierig, deshalb auch behutsam zu benutzen. Andererseits passte es so schön polemisch in die Landschaft. Ich möchte dem Eindruck entgegenwirken, der von einigen Leuten erweckt wird, dass Gewalttaten, wenn sie denn von den richtigen Leuten ideologisch begründet werden, deshalb besser seien als andere.

Haben Sie einen konkreten Fall vor Augen?
Ich denke an den Überfall von drei oder vier sogenannten Antifaschisten auf einen Skinhead, den man für einen Rechten gehalten hat. Das Opfer ist mit Totschlägern traktiert und, als er am Boden lag, mit Stiefeln ins Gesicht getreten worden. Das ist eine Art von Menschenverachtung, die sich von der neonazistischer Täter nicht unterscheidet. Es gibt keine gute Inhumanität, die ideologisch begründbar ist. Und keine schlechte Inhumanität, weil sie von den anderen Leuten kommt. Inhuman ist inhuman.

Übers Jahr gibt es in der Stadt rund 44 200 Gewaltstraftaten. Jede 300. davon lässt sich der linksradikalen Szene zuordnen. Wird die Gefahr einer wirklichen Bedrohung für das Gemeinwesen nicht überschätzt?
Natürlich hängen politisch motivierte Gewalttaten in gewisser Weise mit einer Gewaltenthemmung zusammen, die vor allem auch außerhalb des politischen Spektrums stattfindet. Aber das Leben in Berlin wird nicht von politischer Gewalt bestimmt, weder der von rechts noch der von links. Wir haben über Jahre die rechtsextremistische Gewalt zu Recht an den Pranger gestellt und verurteilt. Dabei wurden durchaus Erfolge erzielt. Wir haben eine allgemeine Verurteilung erreicht. Es ist teilweise zu Rückgängen dieser Gewalttaten gekommen. Und parallel dazu muss man eben leider feststellen, dass die linksradikalen Gewalttaten zugenommen haben. Darauf hinzuweisen und zu sehen, welche Strategien nötig sind, um diesen Trend wieder zu bremsen, ist eine legitime Aufgabe von Politik. Das betrifft auch andere Kriminalitätsphänomene, ob das nun Internet-Betrügereien sind oder ähnliches.

Bewerten Sie die derzeitigen Anschläge als Vorboten für eine Art neue RAF?
Einen historischen Vergleich zur RAF halte ich für völlig falsch. Weil damit Angstsymptome bedient werden, für die es keinen Anlass gibt.

Zuletzt gab es Anschläge einer Gruppe, die sich »Revolutionäre Aktionszellen« (RAZ) nennt, auf Büro- und andere Gebäude. Sie benutzten explosive Gaskartuschen. Muss man hier von einer neuen Qualität sprechen?
Die Brandbomben sind eine Steigerung im Verhältnis zu bisherigen Aktivitäten. Andererseits: In Südeuropa gibt es Anschläge mit diesen Gaskartuschen seit Jahren. Es handelt sich nicht um ein neues Phänomen, sondern um eines, das Berlin erreicht hat. Hier können Sie feststellen, wie hilfreich Medien – »interim« und »Radikal« und andere – sein können, wenn sie noch für den letzten Idioten Gebrauchsanweisungen veröffentlichen. Glücklicherweise wurde das nicht massenweise aufgegriffen. Insofern handelt es sich nicht um eine andere Qualität im Sinne einer Bewegung, sondern eine neue Qualität hinsichtlich der Begehungsform.

Es gibt das Gerücht, dass Sie linksradikale Gruppen wie die Antifaschistische Linke Berlin (ALB), eine der größten Antifa-Gruppen Berlins, verbieten wollen?
Man sagt nicht, man wolle etwas verbieten. Das würde die Möglichkeiten beeinträchtigen, bestimmten Organisationen Straftaten und dergleichen nachweisen zu können. Und da unterscheide ich definitiv nicht zwischen rechts und links sowie gewaltbereiten islamistischen Gruppen. Insofern ist das eine Frage, die im Einzelfall geprüft werden muss. Das habe ich mal generell gesagt. Darauf haben offensichtlich einige den von mir nicht beabsichtigten Schluss gezogen, sie seien so schlimm, dass sie verboten werden müssten. Sollte ein entsprechendes Potenzial an Straftaten vorliegen, will ich allerdings auch nichts ausschließen.

Die beiden kürzlich veröffentlichten Studien zu linker Radikalität sagen kaum Neues. Oder?
Neu ist die Art der Zusammenfassung, auch noch einmal eine genaue Darstellung bekannter Täterstrukturen. Man muss allerdings auch sehen, dass die Zahl der zugrunde liegenden Fälle – glücklicherweise – nicht hoch ist. Wir haben kein Massenphänomen von Gewalttaten links oder rechts, sondern schreckliche, aber noch überschaubare Einzelfälle. Und insofern ist bei jedem Ergebnis einer Studie auch immer ein Fragezeichen anzubringen, inwieweit das zu verallgemeinern ist.

Der nächste 1. Mai steht bevor. Die betreffende Studie empfiehlt ein Alkoholverbot und weniger Polizisten in Kampfmontur. Werden Sie die Anregungen aufnehmen?
Die Studie macht keine Vorschläge, sondern konstatiert Hintergründe aus Interviews. Und eine der nicht überraschenden Ursachen ist, dass bei Entgrenzung der Gewalt, wie das die Analyse nennt, Alkohol eine erhebliche Rolle spielt – wie bei jedem Oktoberfest, bei jeder Wirtshausschlägerei. Zudem hängen derartige Krawalle von Gelegenheiten ab. Dinge, auf die wir bisher ja reagiert haben. Wir haben schon darauf gesehen, dass an der Straßenkreuzung, an der der schwarze Block vorüberzieht, am Vorabend von der Baufirma Pflastersteine gesichert werden. Im Bereich Mauerpark wurde sehr stark darauf geachtet, dass die Leute ihre Flaschen am Eingang Mauerpark abgeben müssen, um Gelegenheit zu Gewalttaten zurückzudrängen. Natürlich wird geprüft, ob man Ähnliches auch in Kreuzberg erreichen kann. Wenn jemand einen Stein wirft, dann wird er auch an diesem 1. Mai damit rechnen müssen, dass die Polizei ihn mitnimmt und vor Gericht stellt. Die Zeit der Verwarnungen in solchen Fällen ist lange vorbei.

Rechtsanwälte beklagen, dass Berliner Gerichte – etwa im Vergleich zu Hamburg – zu überharten Urteilen neigen. Als Ursache vermuten die Anwälte politischen Druck. Üben Sie dergleichen aus?
Nein. Solche Vorstellungen zeugen von seltsamem Rechtsverständnis. Wer glaubt, dass sich Richter von Politik treiben lassen, hat das Prinzip der Unabhängigkeit von Justiz nicht begriffen. Richtig ist, dass ich mich als politisch verantwortlicher denkender Mensch an der politischen Debatte beteilige, wie Verstöße bestraft werden sollen, ob die Strafen angemessen oder überzogen sind. Wer einen Pflasterstein auf einen Menschen wirft, ist gefährlich und muss im Rahmen des Gesetzes mit einer Freiheitsstrafe rechnen.

Einige öffentlich besonders beachtete Verfahren endeten mit einem Freispruch. Zwei Schüler beispielsweise mussten zuvor sieben Monate in U-Haft zubringen. Wurde nicht vorurteilsfrei ermittelt?
Bei der Debatte wird häufig übersehen, dass es diese Fälle tatsächlich gegeben hat: Der Brandsatz ist auf einen Menschen geworfen worden. Es gab schwere Verletzungen. Gegen solch schwere Kriminalität müssen wir vorgehen. Wenn sich hinreichender Tatverdacht im Nachhinein nicht bestätigt und die Menschen freigelassen werden, dann ist das für mich eine Stärke unseres Rechtsstaates, nicht eine Schwäche.

Massive Kritik gibt es an der Art und Weise polizeilicher Ermittlungen. Es heißt, sie seien auf schnellen Erfolg ausgerichtet und nicht gründlich genug.
Unsere Polizei tut alles, um derartige Fälle sauber und penibel aufzuklären. Die Kriminalitätsstatistik weist eine Erfolgsquote von um die 50 Prozent aus. Das ist für eine Metropole wie Berlin hervorragend. Dass auch mal ein Fehler passieren mag, mein Gott, das ist so, kein Mensch ist unfehlbar.

Nicht wenige Jugendliche fühlen sich sozial benachteiligt, aus den Kiezen vertrieben, glauben nicht an Chancen oder Zukunft. Es sammelt sich Frust. Das nährt wohl auch den militanten Teil der linksradikalen Szene. Was müsste für junge Leute getan werden?
Tatsächlich haben etliche Jugendliche keine guten Erwerbsaussichten, insbesondere Migranten. Die Ursachen liegen primär in fehlender Qualifikation. In Berlin sind kaum noch gute Jobs zu finden, wenn man nicht gut ausgebildet ist. Die Zeiten, in denen nicht qualifizierte Leute angelernt wurden und dann ihr Geld verdient haben, sind längst vorüber. Bei uns wird inzwischen weitgehend mit dem Kopf gearbeitet. Deshalb ist Bildung das A und O, um diese Situation für Jugendliche zu verbessern. Und da geht es mir jetzt nicht darum, die Verantwortung auf Eltern und deren Versäumnisse abzuschieben. Die Jugendlichen müssen dazu gebracht werden, sich selbst zu animieren, Bildungschancen wahrzunehmen.

Politik trägt auch Verantwortung.
Was die Stadt anbietet, ist immens – mit Kitas, Schulen, Fortbildung. Leider muss man die Leute teilweise dorthin tragen. In Zusammenarbeit mit den Communities der Migranten, den Moscheen, sollte man versuchen, jungen Leuten die Seele einzuhauchen, wie wichtig das ist. Das gilt natürlich auch für untere Schichten, in denen Bildung keine Rolle spielt. Sie wird an Kinder erst zu einem Zeitpunkt herangetragen, wo schon viel versäumt worden und aufzuholen schwierig ist.

Also können Sie den Frust nachvollziehen, der sich in vielen jungen Menschen aufstaut?
Natürlich. Doch Jugendliche, die Hartz IV bekommen oder sich in Maßnahmen befinden, wo sie zwar hingehen, doch für sie keine Perspektive erkennbar ist, werden nur in ganz geringer Zahl straffällig. Die beliebte Gleichung der konservativen Seite, denen geht es schlecht und deshalb werden sie straffällig, geht nicht auf. Armut führt nicht zur Kriminalität.

Viele Linksradikale sehen durchaus einen Zusammenhang mit dem Anstieg der Armut und dem Fakt, dass sich manche Leute das Leben in ihrem Kiez nicht mehr leisten können – Stichwort Gentrifizierung.
Man muss diese Ängste ernst nehmen. Wenn Sie an das berühmte »Carloft« in Kreuzberg denken, fühlen sich dort langansässige benachbarte Wohnprojekte mit ihrer Kneipe offenbar benachteiligt. Aber die dazu nötige Debatte kann nicht der Senat führen, sondern muss auf Bezirksebene diskutiert werden – in den Kiezen, von allen Beteiligten. Dass aber einige bestimmen wollen, wer wo wohnt, kann auch nicht sein.

Aber Rot-Rot ist doch auch für die stadtpolitischen Entscheidungen verantwortlich, die zu starken Aufwertungen geführt haben?
Wenn Leute fürchten, dass die Straße, in der sie wohnen, nach Sanierung doch sehr monoton werden wird, was die Bevölkerungsstruktur anbetrifft, muss man mit ihnen darüber reden. Es muss Akzeptanz aufkommen, dass dort Leute hinziehen, die in die jetzige Struktur nicht hinpassen, weil die vielleicht auch monoton ist.

Wie soll das gehen?
Als ich noch Baustadtrat war und ähnliche Probleme mit Sanierungsgebieten hatte, verbrachte ich drei Abende pro Woche in Bürgerversammlungen, wo Leute ihre Ängste vorbrachten. Diese Debatte muss man führen. Nicht nur darüber, was architektonisch schön wäre, sondern auch, wie man zu einer Struktur kommt, die den Leuten, die bis dahin hier zuhause waren, das Zuhause nicht nimmt und eine Veränderung der Bevölkerung nach unten verhindert.

Fakten linke Gewalt

  • Jede vierte linksradikale Gewalttat wird im Mai begangen, davon 39 Prozent in den ersten beiden Tagen des Monats.
  • 87 Prozent solcher Angriffe gehen von Gruppen aus.
  • Der vorausgegangene Konsum von Alkoholika war bei 56 Prozent der Mai-Täter festzustellen.
  • 83 Prozent der linken Gewaltakte geschehen im öffentlichen Straßenland, fünf Prozent in und an Bahnhöfen, Bussen und Bahnen.
  • Bei Demos wird fast jede vierte Straftat von sogenannten Krawalltouristen begangen. Das sind Leute, die 50 km und mehr vom Tatort zu Hause sind.
  • Beim typischen Täter, der Autos anzündet, handelt es sich um einen 22-Jährigen männlichen Geschlechts, der zu 24 Prozent Schüler oder Student ist.
  • Alkohol spielt bei ihnen kaum eine Rolle.
  • Mit rund einem Drittel sind die Fälle von Brandstiftungen die häufigste Deliktart aus der linksradikalen Szene.
  • Gewalttätige Demonstranten aus diesem Spektrum »werden durch aus ihrer Sicht unangebrachten Polizeieinsatz in ihrer Gewaltbereitschaft gestärkt«.

(Aus jüngsten Studien über die linksradikale Szene)

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