Zu alt, um zu bleiben
Mehr minderjährige Flüchtlinge in Hamburg – »potenziell gefährliche« Altersfeststellung
In der Regel stellt die Jugendhilfe das Geburtsjahr unbegleiteter Minderjähriger, die ohne Personaldokumente nach Deutschland einreisen, durch Inaugenscheinnahme fest. Nur in Bayern, Sachsen und Hamburg sind dafür die Ausländerbehörden zuständig. In Bremen werden die Angaben der Flüchtlinge selbst in der Regel übernommen, während die Behörden in Niedersachsen ihr Alter durch das zwangsweise Röntgen des Handwurzelknochens festsetzen.
Diese vermeintlich wissenschaftliche Methode wurde schon 2007 vom Deutschen Ärztetag als »wissenschaftlich höchst umstritten« und »potenziell gefährlich« kritisiert. Dennoch ist nach Angaben des Flüchtlingsrats in Hamburg die Röntgenuntersuchung auch dort üblich. Verweigern Flüchtlinge die Untersuchung, setzt die Ausländerbehörde das Alter »fiktiv« fest.
Über 400 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge kamen 2009 nach Hamburg, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. Der Anteil der Jugendlichen, die für volljährig erklärt wurden, ist auf 56 Prozent angestiegen. Der Flüchtlingsrat sieht deshalb das gesetzlich garantierte Kindeswohl nicht mehr gewährleistet. Die Betroffenen gelten fortan als Erwachsene und haben damit weniger Rechte als schutzbedürftige Kinder: Sie werden nicht kindgerecht, sondern zusammen mit Erwachsen untergebracht, und sie unterliegen nicht mehr der Schulpflicht. Wenn die Aufnahmequote von 2,6 Prozent erreicht ist, können sie auf andere Bundesländer umverteilt oder, wenn sie in anderen Staaten einen Asylantrag gestellt hatten, dorthin zurückgeschoben werden.
Die Altersfeststellung erweise sich somit als ein wirksames Instrument der Ausländerbehörde, Jugendliche loszuwerden, kritisiert Mehmet Yildiz, Abgeordneter der Linkspartei in der Hamburger Bürgerschaft. Mehrfach seien schon Jugendliche aus anderen Bundesländern zurückgeschickt worden, weil sie jünger waren, als in Hamburg festgesetzt. Bei der Altersbestimmung nimmt Yildiz auch eine Diskriminierung von Jugendlichen aus afrikanischen Ländern wahr, die auffällig häufig als volljährig eingestuft würden.
Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der innenpolitischen Sprecherin der Linksfraktion, Ulla Jelpke, geht hervor, dass Ausländerbehörden überall in der Bundesrepublik bis zu fünfstellige Beträge zahlen, um Flüchtlinge abschieben zu können. Sie lassen dafür Delegationen aus Afrika einfliegen, die die Staatsangehörigkeit von Flüchtlingen aus Ländern wie Guinea- Bissau, Nigeria oder Sierra Leone feststellen und Reisedokumente ausstellen sollen.
In den vergangenen beiden Jahren wurden 3500 Afrikanerinnen und Afrikaner Delegationen aus ihren vermeintlichen Herkunftsländern vorgeführt. Die Delegationsteilnehmer erhalten neben den Hotelkosten ein Tagegeld von über 100 Euro und jeweils bis zu 300 Euro für die ausgestellten Personalpapiere. Die Bundesrepublik zahlt damit für Verwaltungsleistungen, die andere Staaten für ihre eigenen Staatsangehörigen erbringen. Jelpke fordert deshalb, diese Praxis zur Beschaffung von Reisedokumenten einzustellen.
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