Miao Xiaochun
Peking gerastert
Miao Xiaochun ist ein außergewöhnlicher Stadtvermesser. Der in Kassel ausgebildete und jetzt wieder in Peking lebende Künstler hat seine Heimatstadt mit einem Raster aus 18 waagerechten und 32 senkrechten Linien überzogen und an jedem der 639 Kreuzungspunkte seine Kamera aufgebaut. Die hat er so um die eigene Achse rotieren lassen, dass sie einen kompletten 360-Grad-Blick auf diese mechanistisch ausgewählte Szenerie festhielt. Die derart entstandenen Panoramen rollte der Künstler in der Alexander Ochs Gallery in der Sophienstraße aus und ermöglichte damit ein tiefes Eintauchen in den Alltag dieser Stadt.
Auf vielen Bildern wird man Zeuge der rasanten baulichen Veränderungen. Traditionelle Altstadtviertel aus Lehmhäusern, die sich zu einem unübersichtlichen Labyrinth aus Gebäudezeilen und Innenhöfen fügen, weichen immer mehr der Abrissbirne. Miao Xiaochun zeigt die letzten, dort noch aus Not oder aus Trotz zwischen abgebrochenen Häusern wohnenden Familien. Im Hintergrund streben bereits die üblichen Glas- und Stahlpaläste gen Himmel. Der Fotograf fängt aber auch eher idyllisch anmutende Marktszenen ein. Zuweilen dringt er sogar in Innenräume wie Sporthallen oder Hochhaustürme ein.
Interessant an dieser Arbeit ist das Zufallsprinzip. Die Orte wurden nicht nach ästhetischen Gesichtspunkten bestimmt, sondern gehorchen einem abstrakten Geo- Planing. Dieses Prinzip weist dem Projekt die Qualitäten einer Sozialstudie zu. Vor dem Kameraauge entfalten sich die zentrifugalen Kräfte dieser Gesellschaft. Blitzende Pkws aus westlicher Produktion treffen auf Gestalten, die sich in Hauseingängen kauern, um etwas Schlaf zu finden. Von breiten Straßen zweigen dunkle, gefährlich anmutende Gassen ab. Auch skurrile hybride Anordnungen wie eine Gruppe marschierender Uniformierter vor einem Riesenrad finden Eingang in dieses gewaltige Tagebuch.
Der in der Galerie aufgebaute Computerarbeitsplatz erlaubte sogar, mit der Maus über den digitalen Stadtplan zu streifen und Miao Xiaochuns Fotostandorte anzuklicken. Meist entspricht das sich öffnende Bild der Dichte der Bebauung, die man beim Lesen des Stadtplans erwartet. Zuweilen aber kristallisieren sich die Pixel auch zu unvermuteten Brachflächen heraus.
Ausstellung und Installation »Beijing Index« sind ein Generator der Überraschungen. Sie ermöglichen ein digitales Flanieren durch die asiatische Boomtown. Alle 629 Aufnahmen waren bis letzte Woche in der Galerie zu besichtigen. Besonders reizvoll waren dabei die Sonderdrucke, die der Künstler auf klassische Seidenrollen aufbrachte.
Der an der Pekinger Zentralakademie lehrende Künstler erweist sich als ein ambitionierter Wanderer zwischen der tradierten Kunstwelt und dem zeitgenössischen technizistisch-diskursiven Milieu.
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