Eisfremde Welt
Juri Rytchëu: große Literatur aus Sibirien
Achtzig Jahre alt wäre er heute geworden – Juri Rytchëu, ein ungewöhnlicher Erzähler, ungewöhnlich wegen seiner Herkunft. Er stammt von der Tschuktschen-Halbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens. Gegenüber, auf der anderen Seite der Behringstraße, liegt Alaska. Rytchëu hat seinen Lesern das Fenster zu einer faszinierend fremden Welt geöffnet. Nur 12 000 Menschen zählt sein kleines Volk, und es hat bislang nur einen Autor von Weltgeltung hervorgebracht – ihn. Kurz vor seinem Tod (Rytchëu starb im Mai 2008 in Sankt Petersburg) vollendete der Schriftsteller eine Sammlung autobiografischer Texte, »Alphabet meines Lebens«, mit gut siebzig Einträgen, sortiert nach Stichwörtern.
Bestimmte Begriffe erwartet man, zentrale Termini aus dem Universum der Tschuktschen. »Wal« zum Beispiel (ein »heiliges Wesen«), »Eis« (von den Robbenjägern nach Form und Schattierung unterschieden) oder »Brauch, Lebensart«. (»Ohne Befolgung des gesamten Kodex gab es für den Menschen keine Existenz.«)
Andere Stichwörter markieren biografische Zäsuren; der Enkel eines »Schamanen«, in einer Fellhütte aufgewachsen, nahm einen ungewöhnlichen Weg. Ab Ende der Vierziger besuchte er in Leningrad die »Universität«. »Bücher« hatte es daheim kaum gegeben (Großvater, der Schamane, besaß eine zerfledderte russische Bibel), und doch wurde Rytchëu ein »Büchermacher«. Erzählte den Russen, später den Westeuropäern vom Lebenskampf der Tschuktschen.
Russische Autoren, sagt Rytchëu, zeigten die Tschuktschen gern »naiv bis zur Dummheit«; er wollte sie wirklichkeitsnah zeichnen – und verirrte sich im Dogmengeflecht des sozialistischen Realismus, »bei dem das Gewünschte als Realität dargestellt wurde«. So sah er es am Ende.
Die Sehnsucht nach heiler Welt spürt man noch in diesem späten Buch. Einen Tirkeryt (Sonnenherrscher oder Imperator) hätten die Tschuktschen nie gekannt, schreibt Rytchëu. »Keinen Herrscher, keinen Führer, keinen geistigen Anführer.« Statt dessen existierte »Demokratie in beinahe reinster Form«. Korruption – »dieses Wort gibt es in der tschuktschischen Sprache bis heute nicht«. Das mag so sein. Doch selbst das Sowjetsystem erscheint bei Rytchëu in ungewöhnlich sanftem Licht. Vielleicht, weil der Autor so lange an dieses System glaubte. Ja, es gab die »Miliz« und ihre Strafexpeditionen gegen die Völker des Nordens. Es gab diese »Grausamkeit der Macht«, kalt wie eine Eiswand. Aber der Autor, einst Zwangsarbeiter beim Bau eines Militärflughafens an der Sankt-Lorenz-Bucht, verpackt den Schrecken in Anekdoten – schon wirkt das Erlebte weniger schrecklich.
»Alphabet meines Lebens« ist ein altersmildes Lesebuch, Skizzensammlung über ein Paradies, das es so wohl nie gab. Die Sortierung der Erinnerungsfetzen nach Alphabet unterläuft die Chronologie. Der Erzähler springt wie willkürlich von einer Lebensstation zur nächsten, vor und zurück, es verleiht dieser Autobiografie einen besonderen Reiz.
Schön und stimmig sind die Naturschilderungen. Im Spätherbst 1993 – davon handelt eine Skizze – fuhr Rytchëu mit Gefährten in einem Lederkanu hinaus auf den Pazifik. »Die Leuchttürme, verwaist zurückgelassen, blickten mit leeren Augen aufs Meer, ihre Scheinwerfer hatte der Wind zerschlagen.« Der Dichter sah die Sterne leuchten, sah den Mond als schmale Sichel, scharf und klar, und dann das Polarlicht. Am Morgen verlosch das Polarlicht; Sterne und Mond aber konnten die Männer selbst dann noch sehen, als über Alaska schon die kalte Herbstsonne aufgegangen war. In gleißendem Sonnenschein erreichten sie die Sankt-Lorenz-Bucht. Schlichtes Ende einer Reise: »Unseren Weg kreuzte eine Walkuh mit ihrem Kalb. Sie stieß eine Fontäne in den Himmel.«
Juri Rytchëu: Alphabet meines Lebens. Aus dem Russischen von Antje Leetz. Unionsverlag Zürich. 384 S.,geb., 22,90 €.
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