Die Insel der Kurzarbeiter
Auf einem kleinen sardinischen Eiland manifestiert sich sozialer Protest
L’Asinara ist eine kleine Insel vor der Nordostküste Sardiniens. Bis 1999 gab es hier ein Hochsicherheitsgefängnis, jetzt sind die 50 Quadratkilometer ein Naturpark, den man nur mit Sondererlaubnis betreten darf. Aber seit zwei Wochen leben hier 15 Arbeiter der sardischen Chemiefabrik Vinyls. Sie haben L'Asinara symbolisch besetzt, um dagegen zu protestieren, dass sie vor acht Monaten auf Kurzarbeit gesetzt wurden, seitdem kein Geld bekommen und in eine unsichere Zukunft blicken. Und sie haben die Insel umgetauft: Jetzt heißt sie »L’Isola dei cassintegrati« – »Insel der Kurzarbeiter«. Michele Azzu, Sohn eines der Besetzer, hatte die Idee, die Aktion beim Internetnetzwerk Facebook zu dokumentieren. Die »Fangemeinde« belief sich nach zwei Tagen bereits auf 1000 Personen – inzwischen sind es fast 30 000.
Jeden Abend setzen die 15 sich zusammen und schreiben ihr Tagebuch, das dann auf Facebook veröffentlicht wird. Zum Beispiel: »7.30 Uhr. Die letzte Nacht war nicht einfach. Es war richtig kalt. Der Wind kam wirklich überall hin, auch in die engen Flure und die Gefängniszellen, in denen wir Schutz gesucht haben. Aber dann haben wir gefrühstückt und uns einen windgeschützten Ort gesucht. Und es wurde besser.« Das Leben im »Dschungelcamp der Kurzarbeiter«, wie es die Arbeiter auch nennen, um damit eine beliebte Fernsehshow zu parodieren, ist beschwerlich: Handys funktionieren nicht immer, nur manchmal gibt es Strom, und auch das Notebook, das Michele seinem Vater besorgte, gibt häufig den Geist auf. Dass ihr Verzweiflungsakt so viel Aufmerksamkeit gefunden hat, verwundert und freut die Arbeiter.
Und wenn einige ihnen vorwerfen, dass sie nur berühmt werden wollen, kratzt sie das nicht. »Wenn uns einige angreifen, dann ist das egal«, sagt Pietro Marongiu. Er ist der Älteste und hat fast 35 Jahre Arbeit im Chemiewerk gearbeitet. »Wir freuen uns über jede Solidaritätsbotschaft im Internet – auch wenn wir von hier aus nicht immer ins Netz kommen. Aber meine Tochter hält mich per SMS auf dem Laufenden.«
Marongiu erzählt die Geschichte »seiner« Fabrik, die in den letzten Jahren mehrfach den Besitzer gewechselt hat: »Immer wieder hat man uns Versprechungen gemacht. Immer wieder hieß es, wir sollten doch Vertrauen haben, man werde schon eine Lösung finden. Im letzten Herbst sind wir sogar nach Rom gefahren und man hat uns versichert, die Produktion werde garantiert am 15. Dezember wieder aufgenommen. Aber dann ist auch der Dezember vorbei gegangen, ohne das etwas geschehen wäre. Und nun haben wir die Schnauze voll. Auch wenn es jetzt wieder heißt, es gebe Hoffnung für unser Werk, weil man einen Partner aus Katar gefunden hat – wir gehen erst dann von dieser Insel runter, wenn die Kollegen zu Hause uns versichern, dass sich im Werk tatsächlich etwas tut.«
Aus dem Tagebuch: »10 Uhr. Heute waren wir am Hafen. Der Bürgermeister von unserem Heimatort hat uns mit der Fähre ein altes klappriges Auto geschickt. Wir danken ihm dafür. Drei von uns mussten heute unbedingt aufs Festland zurück. Aber morgen kommen dafür drei andere. Oder vielleicht noch mehr.« »11 Uhr. Wir sind mit dem Auto über die Insel gefahren. Wir haben versucht, die Pflanzen zu identifizieren, über die die Parkwächter uns gestern Abend einen Vortrag gehalten haben. Der beste war Pietro Marongiu: Der hat ein Gedächtnis wie ein Elefant.« »12.30 Uhr. Während wir das Essen vorbereiten, hat Andrea Spanu im Notebook ein Video seines kleinen Sohnes gesehen. Seine Frau hatte es geschickt. Aus seinen großen blauen Augen kullerten Tränen. Wir haben so getan, als würden wir nichts merken.«
Spanu gehört zu den Jüngeren, als er auf Kurzarbeit gesetzt wurde, brach für ihn eine Welt zusammen. Er hatte sich gerade eine Wohnung gekauft – die Raten muss er zahlen, auch wenn bisher kein Cent vom Arbeitsamt kam: Dort spricht man von »bürokratischen Problemen« und versichert – seit Monaten – eine »schnelle Lösung«.
»16 Uhr. Gedankenaustausch. Wir glauben nicht, dass nur wir Probleme haben. Da sind die vielen Arbeitslosen, die Kollegen mit prekären Arbeitsverhältnissen, die jungen Leute, denen niemand zuhört. Wir sind nicht so vermessen, dass wir glauben, sie irgendwie zu repräsentieren. Aber wir wollen ihnen etwas sagen: Resigniert nicht, verliert den Kampfesgeist nicht. Jeder einzelne von euch ist wichtiger, als man euch Glauben machen will.«
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