Demokratisierung des Reisens

Die Eisenbahn stand in ihrer Historie auch immer im Bündnis mit der Staatsmacht

  • Erich Preuß
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Eisenbahn in Deutschland blickt auf eine 175-jährige bewegte Geschichte zurück. Auch die Frage »staatlich oder privat?« war immer wieder Streitpunkt.

Kaum eine Geschichte über die Eisenbahn Deutschlands wird geschrieben, ohne den Pionier zu nennen: die Ludwigsbahn-Gesellschaft mit ihrer Strecke Nürnberg-Fürth und der Dampflokomotive »Adler«. Auch im Jubiläumsjahr wird an den Beginn einer neuen Ära des Landverkehrs vor 175 Jahren erinnert: Am 7. Dezember 1835 fuhr der erste, von einer Dampflokomotive gezogene Zug des öffentlichen Verkehrs.

Die zu Ehren des bayerischen Königs Ludwig I., der allerdings weniger die Eisenbahn als Kanäle liebte, benannte Gesellschaft bestand in erster Linie aus Kaufleuten. Sie waren um ihr Geschäft besorgt, dem Postkutsche und Pferdewagen nicht mehr genügten. Deshalb finanzierten sie den Bau der ersten deutschen Eisenbahn nach englischem Vorbild. Nach dem Ersten Weltkrieg sank der Nimbus der Ludwigsbahn, zumal ihr der Durchgangsverkehr fehlte. Am 31. Oktober 1922 fuhr der letzte Zug. Das Wunder war dahin. Die Schienen verrosteten, die Anlagen verfielen. Der letzte Rest der Ludwigsbahn verschwand beim Bau der Nürnberger U-Bahn.

Wirtschaft und Gesellschaft verändert

Dennoch hatte die Eisenbahn Wirtschaft und Gesellschaft in einem Maße verändert, wie es sich die Protagonisten von 1835 sicherlich kaum vorstellen konnten. Welche Dynamik und Dimension diesen Vorgängen innewohnten, illustriert ein Beispiel aus der Kinderzeit der Eisenbahn: Die Postkutsche, die rund zehn Stunden für 60 Kilometer Strecke von München nach Augsburg brauchte, wurde im Mai 1893 nur noch von 339 Personen benutzt. Die Staatsbahn beförderte zwei Jahre später im gleichen Zeitraum auf gleicher Strecke 31 622 Fahrgäste, und das in jeweils nur drei Stunden.

Die Städte vergrößerten sich, wuchsen zu den Bahnhöfen hin, die Wirtschaft wandelte sich im Zeichen der industriellen Revolution vom Handwerk und den Manufakturen hin zu großen Fabriken. Ein Heer von Arbeitern fuhr in den Berufszügen früh zur Arbeit und abends zurück in die Quartiere. Das Reisen demokratisierte sich. Architektur und Technik erfuhren Impulse für Neues, sei es bei den Bahngebäuden, sei es im Lokomotiv- und Wagenbau, bei der Signal-, Brems- und Rangiertechnik oder beim Funk- und Fernsprechverkehr.

Die Eisenbahn überwand Länder- und Staatsgrenzen, wie sie auch immer im Bündnis mit der Staatsmacht stand. Erinnert sei daran, dass Revolutionäre und Konterrevolutionäre bereits 1848 die Züge benutzten, dass auf den Schienenwegen für Kriege mobilgemacht wurde, dass Soldaten an die Front, Verwundete und Tote in die Heimat, aber auch Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Menschen in die Vernichtungslager transportiert wurden.

Geschichte wiederholt sich. Immer gab es Perioden mit Verfechter und Gegnern der Privat- und der Staatseisenbahnen. Länder wie Baden, Württemberg, Hannover und Braunschweig sahen im Staat den besten Förderer und Hüter des Schienenverkehrs. In Bayern und Sachsen war anfangs unentschieden, wohin die Reise gehen sollte, in Mecklenburg sogar bis um 1900. Der Staat musste immer dann eingreifen, wenn die Aktionäre sich verrechnet hatten, finanziell scheiterten. Dann kaufte der Staat die verschuldete Bahn und baute Strecken zu Ende. Preußen machte bittere Erfahrungen mit dem hochgelobten Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg, der ohne Kapitalbasis als Generalunternehmer die Lieferanten und die Baumeister der Strecken in Preußen, Rumänien und Russland mit Aktien dieser Bahnen bezahlte, bis 1870 die Blase platzte.

Auch seinerzeit argumentierten die Kritiker des Staatsbahnsystems, wie prächtig doch die privaten Eisenbahnsysteme in England und den USA funktionieren, verstummten indes nach einer Vielzahl von Zusammenbrüchen nach 1873. Jetzt kam die Zeit der Verstaatlichung der großen Bahngesellschaften. Nach der Gründung des Deutschen Reichs »von oben« strebte Reichskanzler Otto von Bismarck die »Reichseisenbahnen« an, wie sie auch die Verfassung vorsah, im Interesse der Landesverteidigung und des allgemeinen Verkehrs.

Nicht gelungene »Verreichlichung«

Dazu kam es bis auf die 766 Kilometer Strecke der Französischen Ostbahn in Elsaß-Lothringen, Beute aus dem Krieg mit Frankreich 1871, nicht. Alle Versuche der »Verreichlichung« scheiterten, auch nach der Einrichtung eines Reichseisenbahnamtes 1873. Vor allem die südlichen Länder fürchteten Bismarcks »Verreichlichungsprogramm« als einen Angriff auf ihre staatliche Souveränität.

Albert von Maybach, Minister der öffentlichen Arbeiten von 1879 bis 1891, erreichte wenigstens, dass in Preußen die großen Privatbahnen verstaatlicht wurden. 1910 entfielen von den rund 60 000 Kilometern deutscher Bahnstrecken nicht einmal 4000 Kilometer auf Privatbahnen, das Gros dagegen auf staatliche Länderbahnen. Die Königlich Preußische Eisenbahn-Verwaltung war nicht nur die größte Verkehrsanstalt der Welt, der Zustand der Anlagen und Fahrzeuge sowie die Betriebsorganisation waren für ihre Zeit mustergültig.

Nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Deutsche Reich rund 8000 Kilometer Strecken. Sie befanden sich zudem in einem Zustand, mit dem kein Staat zu machen war. Die Landespolitiker waren nun froh, dass die Reichsverwaltung ihre Bahnen übernahm und auch die finanziellen Lasten trug. Was Reichskanzler Bismarck und Verkehrsminister Maybach immer gewünscht hatten, aber unerfüllt blieb, war jetzt möglich: Am 1. April 1920 wurde die Deutsche Reichsbahn gebildet, sie war auch ein Pfand für die Reparationszahlungen an die Siegermächte. Die folgenden Jahre brachten der Staatsbahn eine bewegte Zeit – und verschafften ihr hohes Ansehen im Ausland und große Bewunderung unter vielen Bürgern, andererseits aber nie die Anerkennung und Förderung durch den Staat, die sie eigentlich verdient hätte. Viele Neuerungen fallen in diese Zeit, wie die moderne Organisation bei der Instandhaltung der Gleisanlagen und der Reparatur in den Ausbesserungswerken, die Elektrifizierung der Strecken, Dieselschnelltriebwagen wie der »Fliegende Hamburger«, die Zugsicherungstechnik, Mechanisierung und Automatisierung der Rangierbahnhöfe, Erhöhung der Zuggeschwindigkeiten, zahlreiche neue Bahnhofs- und Dienstgebäude sowie schmucke Eisenbahnersiedlungen.

NS-Verstrickungen der Reichsbahn

Julius Dorpmüller, »omnipräsenter« Generaldirektor seit 1926 und von 1937 an auch Reichsverkehrsminister, wird oft in einem Atemzug mit der Reichsbahn zwischen den Weltkriegen genannt. Dorpmüller ist wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft und Staatsnähe umstritten, und er war mitverantwortlich für die Deportation der Juden mittels der Reichsbahn.

Von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der schon in den 1930er Jahren einsetzenden Vormachtstellung des Kraftwagens erholte sich die Eisenbahn nicht mehr. Im Westen wurde die Deutsche Bundesbahn beim Wiederaufbau fast allein gelassen, das Geld floss hauptsächlich in den Autobahn- und Straßenbau. Zugfahren galt bald als altmodisch, wer mit der Zeit gehen wollte, der klemmte sich hinter das Steuer eines Autos. Der Widerspruch zwischen Ertrag und Verbrauch konnte scheinbar nur noch durch Stilllegung von Strecken und strikte Rationalisierung gelöst werden. Trotzdem erklomm die Bundesbahn im internationalen Vergleich wieder ein beachtliches Niveau.

Die Renaissance der Eisenbahn in der DDR war dem Mangel an Kraftfahrzeugen und ausgebauten Straßen geschuldet. Die Planwirtschaft hob den Anteil am Güterverkehr bis auf 75 Prozent, im Personenverkehr auf rund 60 Prozent, einmalig im internationalen Vergleich! Wenn es um Investitionen ging, blieb die Deutsche Reichsbahn zurück. Sie fuhr auf Verschleiß.

Nach 1990 wurde die Deutsche Reichsbahn nicht nur rasch modernisiert und dem Niveau des Westens angepasst. Allerdings auch mit ihrem Anteil an den Transporten. Der sank wie früher bereits bei der Bundesbahn und stagnierte ab 1994 bei der Deutschen Bahn bei 17 Prozent im Güterverkehr und nur sieben Prozent im Personenverkehr.

Diesen Niedergang hat sich der Jubilar nicht verdient. Die deutschen Eisenbahnen können mehr, auch wenn das manche nicht wahrhaben möchten.


Es wird gefeiert

Auch wenn sich die »Adler«- Fahrt erst am 7. Dezember zum 175. Mal jährt, wird das Jubiläum längst gefeiert. In Fürth vergeht kaum ein Tag im »Eisenbahnjahr«, an dem nichts stattfindet. Höhepunkte sind der »Wiederaufbau« des zweiten Ludwigsbahnhofs (der erste war 1885 abgerissen worden) mit Fotoplanen vom 13. bis 29. August und die Musikrevue »Adler – das Lied von der Eisenbahn« von Ewald Arenz und Thilo Wolf, die am 15. Oktober Premiere hat.

Im Nürnberger Bahn-Museum wird am 1. Juli die Ausstellung »Planet Eisenbahn« eröffnet. Fahrten mit dem Nachbau des »Adler-Zuges« finden an den Mai-Wochenenden statt, im zweiten Halbjahr werden weitere Nachbauten gezeigt, darunter von Stephensons »Rocket«.

Große Fahrzeugparaden wie 1985 in Nürnberg oder 1989 in Riesa fielen in diesem Jahr der Sparsamkeit oder fehlenden Organisatoren zum Opfer. Dafür sind Eisenbahnvereine mit vielen Sonderzugfahrten zur Stelle. Das größte Spektakel ist vom 2. bis 6. April an Mosel, Saar und Rhein zu erleben, wenn mehr als 200 Züge aus den verschiedenen Epochen der deutschen Eisenbahnen Sonder- und Regelzüge übernehmen. Näheres unter: www.dampfspektakel.info. ND

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