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Lienekens Hefte

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

»Lieneke heißt heute Nili Goren, sie ist eine sehr hübsche Dame mit grauen Haaren und strahlenden Augen. Sie lebt in Israel und hat ihre Hefte sowie das Jutetäschchen, das ihre Mutter ihr einst schenkte, dem Yad LaYeled vermacht, einem für Kinder eingerichteten Museum, das zugleich eine Gedenkstätte für die jüdischen Kinder des Holoaust ist.« – Lieneke hat also überlebt, sie hat nach Kriegsende ihren Vater und ihre Geschwister wiedergetroffen, ihre Mutter war nach langer Krankheit gestorben. Nur eine halbe Stunde hatte sie mit ihr auf dem Weg von einer »Gastfamilie« zur anderen.

Gastfamilie? Juden zu beherbergen, darauf stand während der Naziokkupation in Holland der Tod. Und doch hatte es Lienekens Vater, Jacob van der Hoeden, geschafft, sich und seine Familie auf diese Weise in Sicherheit zu bringen. Der Preis war die Trennung voneinander, das Sich-Verstecken in fremder Identität. Für die kleine Lieneke war er nun nicht mehr der Vater, sondern Mijnheer de Jaeger, ein Freund der Familie, den sie Onkel Jeek nennen sollte. So unterschrieb er auch seine Briefe, die er einem Boten der Widerstandsbewegung mitgab. Zuletzt, mit zehn Jahren, war Lieneke van der Hoeden, die sich nun Lieneke Versteeg nannte, ganz allein bei einer protestantischen Arztfamilie, wo man ihr liebevoll begegnete, es ihr allerdings übel nahm, dass sie sich vor Schweinezunge ekelte. Da waren die Heftchen, von denen sie jeden Monat eines bekam, geradezu lebenswichtig für sie. Vom Hund Tummy und der Ziege Doortje schrieb der Vater, vom Schaf, das Hühner auf seinem Rücken trägt. Als wäre er im Urlaub auf einem Bauernhof. Wenn der Vater von Tieren sprach, das wusste das Kind, waren immer ganz andere Dinge gemeint. Die Briefe waren Märchen, aber es waren Zeichen der Liebe. So lange der Vater solche Bilder für sie malte, war nichts von dem geschehen, wovor sie sich die ganze Zeit fürchten musste.

100 000 jüdische Holländer sind in deutschen Lagern umgebracht worden. Aber 10 000, darunter 3500 Kinder, wurde auf ähnliche Weise gerettet wie Lieneke, indem mutige Menschen ihnen Schutz geboten haben. Dabei war es beinahe um sie geschehen, als sie noch zusammen in Utrecht wohnten und ein großer schwarzer Wagen vor dem Haus hielt. Nur wegen des Schildes an der Tür wurden sie nicht abgeholt: »Ansteckende Krankheit«. Lieneke hatte tatsächlich Diphterie ...

Zehn von den Heften, die Jacob van der Hoeden für seine kleine Tochter schrieb und malte, sind im Verlag Jacoby & Stuart in einer aufwändig gestalteten Kassette herausgekommen – per Hand gesetzt und jedes mit einem Wollfaden gebunden, wie es vielleicht auch im Original gewesen ist. Lieneke wurde es streng verboten, die Briefe aufzubewahren. Es wäre zu gefährlich gewesen. Sie durfte jedes Heft nur einen Tag behalten und musste es dann ihren Adoptiveltern geben, damit sie es vernichten konnten. Wie erstaunt war sie, als sie nach dem Krieg alles zurückbekam. Denn: »Sie waren zu schön, um sie zu verbrennen.«

So schön, dass Lienekes Geschichte, die doch nur eine von vielen war, schon fast zur Legende geworden ist. Inwischen gibt es darüber sogar einen Roman – »Das Mädchen mit den drei Namen« –, von der israelischen Journalistin Tami Shem-Tov verfasst. Grundlage sind die Erinnerungen von Nili Goren, die noch genau weiß, wie es war, als sie die einzelnen Briefe bekam. Bei aller Fürsorge, die sie umgab, durchlebte sie ein Drama der Sprachlosigkeit. Denn auch ihre Nachrichten an den Vater hatten belanglos zu bleiben. Sie konnte nicht schreiben, welche Ängste sie ausstand, als Soldaten ins Dorf kamen. Das schlimmste: als sie die Hinrichtung zweier Bekannter mitansehen musste, bei denen die Nazis Juden gefunden hatten.

Das alles kam wieder hoch, als Nili Goren mit Tami Shem-Tov in die Niederlande fuhr und verschiedene Orte besuchte, an denen sie damals – offen oder versteckt – gelebt hatte. Ein Abenteuer für sie, glaubte sie doch diese Vergangenheit in Israel hinter sich gelassen zu haben.

Der Abschied von der Heimat war schwer gewesen, erzählt sie in einem Interview, das dem Roman beigegeben ist. Aber der Vater hatte von Ben Gurion selbst das Angebot erhalten, in Tel Aviv das erste tiermedizinische Institut aufzubauen. Das hat er unmöglich ausschlagen können. Wieder Einsamkeit: Zwar lernte sie Hebräisch, aber sie hatte niemanden, mit dem sie üben konnte. Wieder musste sie den Namen wechseln: Man sagte ihr, dass Lieneke nicht hebräisch sei, aber sie selbst nennt sich weiterhin so.

Lienekens Hefte. Aus dem Niederländischen von Edmund Jacoby. Jaoby & Stuart. 144 S. in Kassette, 19,95 €.
Tami Shem-Tov: Das Mädchen mit den drei Namen. Übersetzt von Mirjam Pressler. Fischer Schatzinsel. 302 S. mit Fotos, geb., 14,95 €.

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