Sozialer Frieden oder Opposition?

In Leipzig diskutierten die Gewerkschaften über ihre Rolle in der Gesellschaft

  • Jörg Meyer, Leipzig
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Gewerkschaften debattieren. In Leipzig hatten die AG Betrieb und Gewerkschaft und die AG Soziale Arbeit der lokalen Linkspartei zur Diskussionsrunde »Die Rolle der Gewerkschaften heute« eingeladen.
Der DGB hat's 2006 verkauft, ver.di drei Jahre später zurückgekauft: Volkshaus in Leipzig
Der DGB hat's 2006 verkauft, ver.di drei Jahre später zurückgekauft: Volkshaus in Leipzig

»Wie viel Verständnis darf ein Gewerkschafter für den real existierenden Kapitalismus haben?«, fragte Ines Jahn, Geschäftsführerin im ver.di-Bezirk Leipzig-Nordsachsen. Ist es richtig, dass angesichts leerer Staatskassen die Gewerkschaften im öffentlichen Dienst niedrige Lohnforderungen stellen oder dass in Zeiten der Krise die Metaller zur Gänze auf eine konkrete Entgeltforderung verzichten? Und wie wichtig ist der Organisationsgrad? Ist er das Ausschlaggebende »oder tragen wir ihn wie einen Fetisch vor uns her?«, fragte die Gewerkschafterin weiter.

Zur Podiumsdiskussion unter dem Titel »Die Rolle der Gewerkschaften heute« hatten die AG Betrieb und Gewerkschaft und die AG Soziale Politik in der Leipziger Linkspartei eingeladen, die lokalen Vorsitzenden von GEW, IG Metall und ver.di waren der Einladung gefolgt – der DGB hatte kurzfristig abgesagt – und mit ihnen gut 35 Menschen, die am traditionsreichen Ort, dem Leipziger Volkshaus, diskutierten. Sind Gewerkschaften systemkritisch oder systemstabilisierend – oder was von beiden sollten sie sein?

Die Diskutanten hatten sich viel vorgenommen, einfach ist es nicht, unter dem Titel den Abend thematisch einzugrenzen. Ines Jahn holte in ihrem kurzen Referat bis zur Gründungsgeschichte der Gewerkschaften und Marx aus, um bei den genannten Fragen zu landen.

Für Cornelia Falken, Leipziger GEW-Kreisvorsitzende, sind die Inkorporation der Gewerkschaften und das manchmal zu große Verständnis für die wirtschaftliche Lage wichtige Fragen. »In Sachsen werden die Gewerkschaften nur gefragt, wenn das Land sparen will«, sagte Falken, die auch Landesvize der Linkspartei ist. Im Koalitionsvertrag sei das Wort Gewerkschaft kein Mal erwähnt. Dass es aber ohne die Gewerkschaften nicht gehe, zeige die tägliche Arbeit. Zur Frage des Organisationsgrades sagte Falken: »Sicher sind wir stark, wenn wir viele Mitglieder haben«, zu bemerken sei aber: »Je mehr die Kollegen verdienen, desto weniger organisieren sie sich.« Jahn mahnte denn auch das Engagement der einzelnen Mitglieder an. Die dürften nicht erst kommen, wenn die Kündigung auf dem Tisch liegt.

Sieglinde Merbitz, erste Bevollmächtigte der Leipziger IG Metall, sagte, sicherlich sei es systemstabilisierend und bewahre den sozialen Frieden, wenn die Gewerkschaften sich, wie beispielsweise Anfang der neunziger Jahre, als in Sachsen zehntausende Jobs in der Industrie abgebaut wurden, für Beschäftigungsgesellschaften einsetzten. Und auch, dass es gelang, die Ausbildung zurück nach Sachsen zu holen, sei systemstabilisierend. Die IG Metall sei in Sachsen von 66 000 Mitgliedern im Jahr 1991 auf 13 000 im Jahr 2010 geschrumpft. Jetzt gerade sei sie aber dabei sich zu erholen: »Die Erkenntnis setzt sich durch, dass man für gute Arbeit auch gutes Geld haben will.« Der jüngst erreichte Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie sei in der Region »nicht gut angekommen«. BMW und Porsche hätten nicht einen Tag Kurzarbeit gefahren, waren von der Krise kaum betroffen.

Es habe aber harte Debatten um die 35-Stunden-Woche gegeben, so Merbitz. Diese Diskussion war nach dem verlorenen Streik im Jahr 2003, weitgehend von der gewerkschaftlichen Agenda verschwunden. Bis zur nächsten Tarifrunde in zwei Jahren soll die generelle Arbeitszeitverkürzung wieder auf die Tagesordnung. Der Landesvorstand habe dazu bereits Arbeitsgruppen eingerichtet.

Inkorporation, Leiharbeit und die Nähe zur SPD: Diese Themen zogen sich auch durch die anschließende Debatte mit dem Publikum – waren aber kaum eingrenzbar. »Gewerkschaften sind im Kapitalismus zwangsläufig systemstabilisierend«, sagte Martin Lesch, ver.di-Sekretär in Leipzig. Die Verquickung mit der Sozialdemokratie habe der Gewerkschaftsbewegung indes großen Schaden zugefügt.

Der Abend sollte der Auftakt für eine Veranstaltungsreihe sein. Angesichts der Einsparungen, die derzeit im Jugend- und Bildungsbereich in Sachsen von der schwarz-gelben Koalition geplant sind, kann es nur gut sein, wenn sich die Gewerkschaften verständigen. Ines Jahn: »Ob wir systemkritisch oder -erhaltend sind, können wir jetzt lernen und zeigen es in der Kommunalpolitik.«

»Es wäre schön, würden die Einzelgewerkschaften mehr zusammen auftreten«, sagte Thomas Netzer von der AG Betrieb und Gewerkschaft. Er regte die Fortführung der Debatte auch vor dem Hintergrund der laufenden Programmdebatte in der Linkspartei an.

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